Dialog in der U1


Cabuflé; 2010-05-06

Autobiographisches Dramolett für zwei Ernst-Busch-Absolventen und diverse Statisten

A: (mit Blick zum U-Bahn-Fernsehen) Was? Nacktbilder von Lena Meyer-Landrut?

B: Ja, hast du das nicht mitgekriegt?

A: Nein…

B: Das ist doch seit ein paar Tagen der youtube-Knüller.

A: Ach youtube? Dann sieht man ihre Titten ja gar nicht.

B: Doch, schon.

A: Was? Auf youtube? Da sind doch keine Titten erlaubt.

B: Wie bitte?

A: Also, wenn jemand es meldet, dann wird es gelöscht.

B: Na ja, ganz kurz halt. So halb. (Pause) Aber ohnehin ist das ja so’n Fall, wo man sich fragt, warum einen das jetzt interessieren soll – Nacktbilder von Lena Meyer-Landrut.

A: Ja, schon, aber ich muss mir das natürlich jetzt trotzdem gleich wenn ich nach hause komm anschauen.

B: Natürlich, ich hab’s mir ja auch angeschaut.

Ansage: Nächste Haltestelle: Kottbusser Tor; Übergang zur U8.

A: Als ich letzte Woche deinen kleinen Bruder besucht habe, hat sich übrigens herausgestellt, dass Benjamin Blümchen in dem geheimen Harem im Führerbunker mit seiner Sacknaht an der Scheide von Lena Meyer-Landrut hängengeblieben ist.

B: Haha. (Pause) War die dann innen oder außen?

A: Was? Na, äh, außen. Sacknaht halt.

Einige Mitreisende schauen peinlich berührt.

B: Du sagst das sehr gerne, oder?

A: Was? Sacknaht?

B: Ja.

A: Ja, selbstverständlich. (Pause) Sacknaht.

Vorhang, Applaus.

Die Wärme der Maschinen


Sims Alabim; 2010-04-19

Nachdem Künstliche Intelligenz und Robotik irgendwie mit zum Themenkomplex dieses Blogs gehören, kann ich genausogut eine kleine Beobachtung meinerseits zu diesem Thema hier reinstellen, nachdem ich schon sonst den ganzen Tag in der Sonne verbummelt habe.

Bei Pressemeldungen zum Thema “Roboter” – einmal ging es dabei um ihre Fähigkeit, menschliche Gesichtsausdrücke nachzuahmen, ein andermal um ein Forschungsprojekt, das sich mit der Frage beschäftigt, ob und wie Roboter für ihre Handlungen haftbar gemacht werden können – ist mir aufgefallen, dass als mögliches Tätigkeitsfeld für (humanoide) Roboter immer wieder die Kranken- und vor allem Altenpflege genannt wurde.

Nennt mich einen fortschrittsfeindlichen Spießer, aber das ist ja schon wieder so ein Ansatz, der mir eine Gänsehaut macht und sehr viel darüber aussagt, welchen Wert wir uns Menschen eigentlich noch selbst zumessen. Es gibt doch nun in modernen Zivilisationen genug Tätigkeitsbereiche, bei denen ich sagen würde: Wenn es eine Maschine machen kann, dann soll es doch ruhig eine Maschine machen. So Sachen die mit Müll zu tun haben, mit giftigen Industriedämpfen oder mit der Entschärfung von Sprengkörpern kämen mir da einfallsloserweise in den Sinn.

Aber nein, wenn es irgendwo einen Bereich gibt, wo wir Roboter brauchen, weil wir diese Arbeit offenbar einem Menschen nicht mehr zumuten können, dann ist das wohl beim Windeln und Füttern alter Menschen, beim Wechseln von Katheterbeuteln und natürlich bei der unzumutbarsten Tätigkeit von allen: einem dementen, behinderten, unzurechnungsfähigen, sabbernden alten Wrack einfach nur Zeit zu opfern. Sind denn Zivis wirklich schon so rar geworden?

Sarkasmus beiseite: In der letzten Zeit werden immer mehr Forschungsergebnisse veröffentlicht, die deutlich machen, dass wir Menschen in erster Linie soziale Geschöpfe sind, dass der Status unserer zwischenmenschlichen Beziehungen ein erheblicher, wenn nicht gar der ausschlaggebenste Faktor für unsere physische Gesundheit ist. Immer öfter wird darauf hingewiesen, dass ein Arzt mit Aufmerksamkeit und Zuwendung größere Erfolge erzielen kann als mit Medikation. Und dann haben wir keine bessere Idee, als ausgerechnet die Alten- und Krankenpflege an Maschinen abzugeben? Ausgerechnet den Bereich, wo vermutlich allein das Vorhandensein eines anderen Menschen den entscheidenden Unterschied macht?

Ich zweifle nicht daran, dass Maschinen so einen Job sogar sehr zuverlässig machen könnten. Ich zweifle daran, ob Zuverlässigkeit das einzige Kriterium ist, worauf es hier ankommt. Ich zweifle daran, dass jemand, nur weil er dement ist, es verdient hat, von dem Zugang zu menschlicher Wärme ausgeschlossen zu werden. Vor allem zweifle ich daran, dass es dem gesunden, jungen Teil der Gesellschaft gut tut, sich derartig abzuschotten und um die wertvolle Erfahrung zu bringen, was es heißen kann, für jemanden da zu sein.

Die Vorstellung, eines Tages seine eigenen Kinder nicht mehr zu erkennen, den eigenen Stuhlgang nicht mehr kontrollieren zu können, den ganzen Tag im Bett liegen zu müssen und den eigenen Namen nicht mehr zu wissen, ist schrecklich genug. Aber wenn ich mir dann noch vorstelle, dass die Arme, die mich im Bett umdrehen, von einer Hydraulik betrieben werden, die Verantworlichkeit dafür, den Zustand meiner Windeln zu überprüfen, bei Sensoren liegt, und das freundliche Gesicht, dass mich den ganzen Tag anlächelt nicht meiner Tochter gehört, sondern nur eine gut gemachte Plastikimitation ihres Antlitzes ist, die bringt mich wirklich so weit, zu hoffen, dass die Suizidpille noch vor dem Altenpflegeroboter in Serie geht.

Regen


Malibu Aircraft; 2010-04-04

Die Nacht hat ihre Pforten geöffnet. Auf den Straßen glänzt der Regen und die reflektierte Leuchtreklame in den Pfützen sagt dir mehr über deine Zeit und über dich, als du eigentlich wissen willst. Du gehst in einen Club, du trinkst, du tanzt, du lernst jemanden kennen. Ihr geht nach draußen, es ist Vollmond.
Doch jetzt ändert sich die Wirklichkeit mit einem Mal, etwas verändert dich. Du siehst ein Bild, deine neue Bekanntschaft wird haariger, verwandelt sich unter schmerzvollen Zuckungen in ein Biest, ein mörderisches Wesen, einen Werwolf.
Du zwinkerst. Alles ist wieder normal. Die Wirklichkeit ist so wie sie ist und nicht anders.
Ihr geht die Straßen entlang. Der Wind bläst, es tut so gut ihn im Gesicht zu spüren, einen Rest der Wildheit der Natur, die aus dieser Stadt verbannt wurde zugunsten einer anderen Wildheit, einer Wildheit, die niemand versteht.
Du hältst die Hand deiner Bekanntschaft.
„Wäre es nicht schön“, sagst du. „oder erstaunlich oder vielleicht auch erschreckend, jedenfalls aufregend, wenn sich alles ändern würde, die Welt, unsere Leben, von einem Tag auf den anderen.“
Und ihr spielt Szenarien durch, was würde geschehen wenn. Und du erinnerst dich an einen Moment, als du noch ein Kind warst und nach oben in den Nachthimmel geblickt hast und die Sterne gesehen hast und du warst dort. Du warst an diesen anderen Orten, in den fernen Sonnensystemen dieser Sterne, du warst dort, du hast die außerirdischen Wesen gesehen, andere Welten, farbenreich und so spannend, so wunderbar fremd und neu.
Und jetzt schaust du nach oben und ja, es ist schön und ja, es ist einzigartig, die Sterne, der Himmel, der selbe Mond, den die großen Frauen und Männer der Geschichte auch bewundert haben, das ist schon was, das ist schon erstaunlich. Aber du bist eben hier auf der Erde und das wird sich auch nicht ändern.
Aber wenn sich alles ändern würde, von einem Tag auf den anderen, dann wäre alles anders.
Deine Begleitung raucht, ist gut angetrunken, aber vielleicht bist du das ja auch, du bist dir nicht ganz sicher, sie schaut dich an, mit großen Augen, einem freundlichen Grinsen und du lächelst.
Ein Licht umhüllt euch und ihr werdet emporgehoben. Eine tiefe Stimme sagt:
„Ihr wurdet auserwählt. Das Schicksal der Menschheit liegt in euren Händen. Ich werde euch in eine andere Welt schicken, wo ihr zusammen gegen dunkle Mächte kämpfen werdet. Ihr könnt sie klar erkennen, sie tragen Hörner und lachen auf diabolische Weise. Ich werde euch mit erstaunlichen Kräften ausstatten, ihr werdet fliegen können und stark sein und…“
Irgendwo zerbricht eine Flasche, Menschen lachen, das Licht erlischt, die Stimme grummelt noch „Och, hmm, vielleicht auch nicht…“ und löst sich dann auf.
„Hallo.“ sagst du zu der Person, die vor dir steht.
„Hallo.“ sagt sie zurück und die Augen dieser anderen Person lächeln.
Die Person küsst dich und du kannst dir nicht helfen, du weißt nicht warum, aber eine Träne löst sich aus deinem Auge. Die Person küsst die Träne weg.
Ein seltsamer Moment, bevor du sie zu dir einlädst, sie wirkt verlegen, lächelt, lehnt dankend ab, aber gibt dir ihre Nummer, bevor sie in die Dunkelheit verschwindet.
Du verfluchst dich mal wieder und natürlich die Welt, denn die Welt eignet sich nun mal so hervorragend zum Verfluchen, verfluchst diese Träne, verfluchst den Regen, der jetzt wieder einsetzt. Ein bisschen früher und das Weinen des Himmels hätte dein eigenes ertränken können, aber nein; und ein bisschen verfluchst du auch die andere Person, die für einen Moment so getan hatte, als wäre sie keine fremde Person, obwohl sie es natürlich war.
Du bist müde, willst ins Bett, willst schlafen, dich den Träumen ergeben, die bereits knapp am Rande deines Sichtfelds in die Wirklichkeit dringen.
Aber etwas hält dich hier an diesem Ort. An diesem Leben. An dieser Welt. Was wäre, wenn?
Diese Frage. Wenn es die nicht gäbe.
Was wäre dann?

Zitat zum Freitag


Malibu Aircraft; 2010-04-03

Etty Hillesum schrieb ein paar Tage vor ihrer Deportation nach Auschwitz in ihr Tagebuch:

People sometimes say to me, “Oh, yes, you look on the bright side of everything.” What a platitude! Everything is perfectly good, and at the same time perfectly bad … I have never felt that I had to force myself to see the bright side of things: everything is always perfectly good, just as it is. Every situation, no matter how deplorable, is an absolute and contains good and evil within itself. By this I simply mean that I find the expression “seeing the bright side of everything” just as repugnant as “taking advantage of everything”.

zitiert nach “The Book of Atheist Spirituality” von André Comte-Sponville, S. 184

Papst und Perversion


Malibu Aircraft; 2010-03-12

In manchen Fällen sagen die Fakten schon so viel, dass sich jeder Kommentar erübrigt. Dann wiederum klebt einem die Zunge am Gaumen fest vor Fassungslosigkeit, angesichts der Selbstverständlichkeit mit der manche katholische Geistliche anzunehmen scheinen, dass ihnen die Vergebung, um die sie bitten, gewährt wird. Man entkommt dem Eindruck nicht, dass schon das Eingestehen eines Vergehens, vielleicht gemischt mit ein wenig allein verbrachter Händefaltzeit, Vergebung bedeutet. Nicht dass Vergebung prinzipiell etwas schlechtes ist. Aber es liegt nicht in der Hand des Sündigers, zu entscheiden, wann diese gewährt wird, auch nicht, wenn er glaubt, dass ein übernatürliches Wesen auf seiner Seite ist.
Was einem wirklich den Atem verschlägt, ist die Heuchelei des Oberchefs, dieses furchtbaren Mannes, dessen Grinsen jedem Kind Schrecken einjagen sollte. Man stelle sich vor, wie viel Respekt sich die katholische Gemeinschaft verdienen könnte, wenn sie sich gegen diesen durch die Welt lügenden und heuchelnden Menschen erheben würde.
Zumindest kann man beginnen zu begreifen, was genau Benedikt an den Missbrauchsfällen „tief erschüttert“, wenn man sich folgendes – aus seiner Zeit als Präfekt der „Kongregation für die Glaubenslehre“, die unter anderem für Missbrauchsfälle innerhalb der Kirche zuständig ist – in Erinnerung ruft:

„Ratzinger’s role in protecting the church against scandal became apparent […]. In May 2001, he sent a confidential letter to every bishop in the Catholic church reminding them of the strict penalties facing those who referred allegations of sexual abuse against priests to outside authorities.
The letter referred to a confidential Vatican document drawn up in 1962 instructing bishops on how to deal with allegations of sexual abuse between a priest and a child arising out of a confessional.
It urged them to investigate such allegations ‘in the most secretive way… restrained by a perpetual silence… and everyone… is to observe the strictest secret which is commonly regarded as a secret of the Holy Office… under the penalty of excommunication’.“

Quelle: Guardian.co.uk

Seine Einstellungen zu Gerechtigkeit und Aufarbeitung wurden auch deutlich, als er angesichts des mutmaßlichen sexuellen Missbrauchs Minderjähriger durch Marcial Maciel Degollado sagte, ebenfalls als Präfekt besagter Kongregation: „One can’t put on trial such a close friend of the Pope as Marcial Maciel”. Aber eigentlich war es ja schon „unerhört“ von Journalisten, ihn überhaupt auf so was anzusprechen.
Im Anblick des Berges an Furchtbarkeiten, den dieser Papst mit sich herumträgt, ist es da so abwegig, auf seine Stürzung durch die vielen moralischen Katholiken zu hoffen? Nur so als Frage…

Nachtrag: Ach ne, sorry, Kommando zurück, daran liegts: Chief exorcist Father Gabriele Amorth says Devil is in the Vatican. Gut, dass das endlich geklärt ist. Meine Fresse…

Die große, böse Nazikeule


Sims Alabim; 2010-03-06

Verdientermaßen ist Guido Westerwelle gerade der Prügelknabe des politischen Kabaretts. Seine Harz IV- Tiraden reichen sogar dafür aus, dass eher moderate Gestalten der politischen Comedy sich zu neuen, menschelnden Höhen aufschwingen. Jetzt aber scheint der Wind sich gedreht zu haben: Beim Politikerderblecken am Nockherberg ist eine “Bruder Barnabas” genannte Kunstfigur in Deutschlands beliebtestes Fettnäpfchen getreten.

Bußprediger Lerchenberg hatte gehöhnt, Westerwelle versammle Hartz-IV-Empfänger “in den leeren, verblühten Landschaften zwischen Usedom und dem Riesengebirge, drumrum ein großer Zaun”. Über dem Eingangstor werde “in großen eisernen Lettern” stehen: “Leistung muss sich wieder lohnen.” Über dem Tor zum KZ Auschwitz hatte in eisernen Lettern gestanden: “Arbeit macht frei”.

So weit, so gut. Westerwelle ist über diesen Vergleich natürlich empört; der fällt für mich unter die Kategorie von Leuten, die laut in den Wald hineinröhren und dann das Echo nicht vertragen können.  Dennoch ist seine Wut verständlich. Aus gutem Grund möchte niemand mit Nazis verglichen werden. Was mich aber an der ganzen Sache wieder aufregt, ist, wer sich noch alles über diesen Scherz aufregen muss:

Die Präsidentin des Zentralrats der Juden, Charlotte Knobloch, bezeichnete einen entsprechenden Vergleich in der Rede des Schauspielers Michael Lerchenberg am Donnerstag als “nicht hinnehmbar” und “Schande”.

Knobloch sagte, einen derartigen Ausrutscher unter der Gürtellinie habe sie bislang noch nicht erlebt. “Scherze, die das Leid der Opfer in den Konzentrationslagern verharmlosen oder gar der Lächerlichkeit preisgeben, sind eine Schande für die ansonsten gelungene Veranstaltung.”

Ich weiß gar nicht, wie man derartig dumme Äußerungen noch kommentieren soll, ohne wie der verzweifelte Oliver Kalkofe zu wirken, dem es in seiner Mattscheibe auch nur selten gelingt, die schiere Blödheit der von ihm gewählten Fernsehsendungen noch durch übertriebene Imitationen zu überbieten.  Warum zum Teufel ist es eine Verharmlosung der NS-Verbrechen, wenn man eine Anspielung darauf benutzt, um einem Politiker in einem vollkommen anderen Zusammenhang Menschenverachtung vorzuwerfen? Benutzen Leute wie Frau Knobloch ihr Gehirn eigentlich auch zum Denken, oder haben sie es auf einen reinen “Nazi-Detektor” reduziert, der laut und schrill Alarm schlägt, wenn irgendwo in irgendeinem anderen Zusammenhang als Gedenkfeiern oder großem, deutschen Hakenkreuz-Kinodrama, bestimme Schlüsselworte fallen, ganz egal wie unangebracht und am Thema vorbei ihr Protest im Augenblick ist? Wie ernst nimmt der Zentralrat der Juden die vielbeschworenen Leiden der Opfer eigentlich wirklich, wenn er sie gnadenlos zu nichts anderem benutzt, als sich bei jeder sich bietenden Gelegenheit zu profilieren und die eigene Wichtigikeit zu unterstreichen?

Anderswo dasselbe: Ist an Fernsehredakteuren, die noch immer kategorisch behaupten, man dürfe über die düstere Vergangenheit Deutschlands keine Scherze machen, die gesamte Kulturelle Entwicklung der letzten 50 Jahre vorbeigegangen? Warum weigert man sich teilweise auch dort, anzuerkennen, was der Rest der Welt längst begriffen hat: Ausgemergelte Juden in gestreiften Anzügen, düstere SS-Männer in schwarzen Ledermänteln, die bei Nacht und Nebel an Verladebahnhöfen in schwarze Limousinen steigen, langgezogene Hakenkreuzbanner an alten Fassaden, Wehrmachtssoldaten mit knatternden Maschinengewehren, all das sind längst popkulturelle Ikonen. Ich rede hier nicht von den  grandiosen humoristischen Bearbeitungen des Dritten Reiches, die Chaplin, Lubitsch, Brooks, in jüngerer Zeit aber auch Begnini oder Moers abgeliefert haben, ich rede von so etwas wie den “Sturmtruppen”-Comics aus Italien.  Ich rede von den Schurken in Indiana-Jones Filmen, die immer für einen Lacher gut sind (“Nazis! I hate these guys!”), von der Eröffnungsszene in X-Men, von den Flashbacks in Shutter Island: Haben Spielberg, Singer und Scorsese nicht auch Verharmlosung des Holocaust betrieben, wenn sie seine Ikonographie ausnutzen, um Action- und Superheldenfilme zu drehen, die mit dem Thema an sich nichts zu tun haben? Betreibt die Werbeindustrie nicht eine Verharmlosung des Holocaust, wenn sie für Parfumwerbungen die Körperkult-Ästhetik von Leni Riefenstahl weiterbetreibt und damit einen Teil des kulturellen Erbes der Nazis ungebrochen aufrecht erhält?

Auch hier im Blog ist ja schon über die Angebrachtheit von Nazi-Vergleichen gestritten worden. Auch ich persönlich finde sie oft unelegant; die Lektüre vom Gotteswahn mit der Lektüre von Mein Kampf zu vergleichen, verharmlost aber nicht den Holocaust, sondern ist nur dazu geeignet, den Opponenten zu brüskieren. Und auch bei meinen geschätzten Freunden und Kollegen Mitautoren wirkt dieser Mechanismus ziemlich verlässlich: Zieht der Gegner die Nazi-Metapher aus dem Hut, weicht man sogleich auf Gegenattacken in expliziter Fäkalsprache aus oder droht mit der Verweigerung weiterer Gesprächsbereitschaft.

Offenbar ist der Nazi-Vergleich eine Rethorik-Keule, die ganz schön hart treffen kann, deshalb sollte ihr Einsatz gut überlegt sein – aber muss man jemandem, der sie verwendet, sofort vorwerfen, er würde das Leid der Holocaust-Opfer deswegen auf nichts anderes als eine solche Rethorik-Keule reduzieren? Gilt dieser Vorwurf dann auch für Josef Hader, der sich in seinem legendären Programm Privat darüber auskotzt, dass man in Europa vor lauter gebetsmühlenartigem Wiederholen der Phrase “Auschwitz darf nie wieder passieren” vollkommen übersieht, dass Völkermord in vielen Ländern der Erde an der Tagesordnung ist – und dass wir daran nicht unschuldig sind? Aber gegenwärtiger Genozid erhitzt die Gemüter scheinbar nicht so sehr, wie die Verharmlosung des vergangenen.

Wie aber sollen wir aus einer Vergangenheit wie dieser eine Lehre ziehen, wenn wir nicht auch zulassen, sie ins kollektive Bewußtsein und damit auch in die Popkultur oder unser Metaphernarsenal aufzunehmen? Wenn wir uns nicht auch erlauben, Vergleiche mit dieser Vergangenheit heranzuziehen, um früh genug neuen Anfängen entgegenzutreten? Eine mahnende Erinnerung an den Nationalsozialismus finde ich manchmal durchaus angebracht,  z.B.  angesichts der Tatsache, dass eine führende Partei mit Sprüchen wie “Leistung muss sich wieder lohnen” den Sozialstaat untergräbt, oder angesichts eines populäreren Wissenschaftlers, der anregt, darüber nachzudenken, warum man zwar Pferderassen auf bestimmte Merkmale hin züchte, aber davor zurückschrecke, dasselbe auch bei Menschen zu tun, um die Leistungsfähigkeit im Profisport zu steigern. Aber wer den Holocaust als Vergleich heranzieht, anstatt nur zum Selbstzweck darüber entsetzt zu sein, der macht offenbar nicht Gefahren in der Gegenwart deutlich, sondern er verhöhnt die armen Opfer…

Danke Hitler, dass du uns auch weiterhin das Leben schwer machst. Das Verbrechen an deiner Generation war Völkermord, verbrannte Erde, Elend, Massenhypnose und die Zerstörung einer Kulturnation; das an den folgenden Generationen jedoch ein kollektiver Dachschaden. Einerseits nervt man uns mit einen Zwang zur Verarbeitung, will es auf der anderen Seite aber nicht zulassen, wenn diese über ehrfürchtige Betroffenheitsgesten hinausgeht.  Aber indem ich mich darüber beschwere, verharmlose ich vermutlich schon wieder den Holocaust.

Sisyphos GmbH und Co. KG


Sims Alabim; 2010-02-23

Mein inoffizieller Beitrag zu Grotemsons Reihe “Was machen eigentlich die Mythen der Antike?”

Camus schrieb, wir müssten uns Sisyphos als einen glücklichen Menschen vorstellen.

Ich glaube, wir müssen uns Sisyphos als einen Entrepeneur vorstellen.  Längst ist er durch seine Beschäftigung mit dem Stein zu einem großen Arbeitgeber geworden. Er lässt Kräne bauen und Rampen errichten und Flaschenzüge erfinden und Berghänge abtragen. Er lässt sich Erfolgsprognosen, Erosionsmodelle und Gravitationskoeffizienten in Form von Tabellen, Kurven und Diagrammen auf Flipcharts vorführen. Er stellt Manager ein, optimiert Arbeitsabläufe und verlangt von seinen Projektleitern Ergebnisse. Er hat ein einprägsames Logo und einen Internetauftritt. Alle 50 Höhenmeter feiert er einen Etappensieg. Im alten Tempel von Delphi kürt er den Mitarbeiter des Monats. Und wenn es einmal wieder bergab geht, lässt er sich vom Staat ein finanzielles Rettungspaket schnüren.

Ich glaube, so müssen wir uns heute Sisyphos vorstellen.

Thomas Nagel: “Public Education and Intelligent Design”


Malibu Aircraft; 2010-01-21

Im Moment wird unter dem Post „Kreationisten sind doof und stinken“ von Cabuflé eifrig diskutiert. Ich will mich da eigentlich erst mal gar nicht so sehr einmischen, bin aber einfach mal so dreist, mir den in den Kommentaren verlinkten Artikel von Thomas Nagel “Public Education and Intelligent Design” (pdf download) vorzunehmen und dafür einen neuen Post aufzumachen.

Leider muss ich gleich respektvoll bemerken, dass mich die Begeisterung, die für diesen Artikel geäußert wurde, ähh wie soll ich sagen, absolut vollständig und komplett verwirrt.
Meine Meinung dazu ist bedauerlicherweise, dass es sich möglicherweise um einen der schlechtesten Artikel handelt, den ich je gelesen habe. Aber ich könnte mich ja irren und außerdem lernt man ja auch viel dabei, sich mit Dingen auseinanderzusetzen, die einem komplett querlaufen, also will ich das so gut es geht versuchen. Ich entschuldige mich schon im Vorfeld für eventuelle Polemisierungen, Ausfälle und wütende Wortschwälle.

Fangen wir an:

“Most importantly, the campaign of the scientific establishment to rule out intelligent design as beyond discussion because it is not science results in the avoidance of significant questions about the relation between evolutionary theory and religious belief, questions that must be faced in order to understand the theory and evaluate the scientific evidence for it.
It would be unfortunate if the Establishment Clause made it unconstitutional to allude to these questions in a public school biology class, for that would mean that evolutionary theory cannot be taught in an intellectually responsible way.“
(S.188)

Das sind halt so Sätze, bei denen mir ernsthaft übel wird. Mit das Großartigste an der amerikanischen Verfassung ist die Establishment Clause! Lassen wir uns doch nur einmal die Schönheit der selbigen zu Gemüte führen, gleich zusammen mit der Free Exercise Clause: “Congress shall make no law respecting an establishment of religion, or prohibiting the free exercise thereof…”
Also WTF könnte irgendjemand DAGEGEN haben??
Wenn irgendjemand, sagen wir mal eine Religion, wichtige Beweise für die eigene Theorie vorlegen kann, dann sollten diese selbstverständlich gehört werden. Aber das schreibt Nagel nicht! Er sagt, dass der wissenschaftliche Beweis für die Evolutionstheorie nur bewertet und verstanden werden kann, wenn sie im Zusammenhang des religiösen Glaubens diskutiert wird!
Warum testen wir nicht den wissenschaftlichen Wert von allen Theorien im Zusammenhang mit religiösem Glauben? Ich finde ja, dass die Regeln für Fußball nicht verstanden und ihr Wert nicht beurteilt werden kann, wenn sie nicht unter religiösen Aspekten diskutiert werden. Hallo? Hab ich irgendwas verpasst? Seit wann geht so eine Argumentation als irgendwas anderes als Schwachsinn durch?
Und nicht zu vergessen: Schulkinder müssen wir da selbstverständlich auch noch mit reinziehen!
Aber weiter im Text, wir sind schließlich gerade mal auf der zweiten Seite.

“ID (as I shall call it, in conformity to current usage) is best interpreted not as an argument for the existence of God, but as a claim about what it is reasonable to believe about biological evolution…”

Nun, wenn das so ist, ist ja alles gut und ich hab kein Problem damit. Ach verdammt, es geht weiter…

“… if one independently holds a belief in God that is consistent both with the empirical facts about nature that have been established by observation, and with the acceptance of general standards of scientific evidence.“
(S.188)

Warum spielt der Glaube an Gott da eine Rolle? Kann mir das jemand erklären? Das heißt, was man über die biologische Evolution glaubt, sollte abhängig davon sein, ob und wie man an Gott glaubt. Und die Argumentationsrichtung ist auch klar. ID beweißt Gott nicht, es setzt den Glauben an Gott voraus, an welchem sich dann die Theorie über die Evolution orientieren soll. Das Wort, das da nicht passt ist, ist “independently”. Wenn es da was zu suchen hätte, hätte der Satz auch nach der ersten Hälfte aufhören können. Und dann fragt er ernsthaft, was eigentlich das Problem mit ID ist?

“The evidence for the theory [Evolutionstheorie, Anm.] is supposed to be evidence for the absence of purpose in the causation of the development of life-forms on this planet.”
(S.188)

Nein! Nein, eben nicht! Beweise für die Evolutionstheorie beweisen Evolutionstheorie und sonst nichts. Es ist nicht die Aufgabe der Evolutionstheorie irgendwas anderes zu beweisen oder zu widerlegen. Es ist die Aufgabe von denen, die glauben, dass es einen Sinn oder einen Plan oder sonst was in der Entwicklung des Lebens gibt, endlich Beweise für IHRE Theorie vorzulegen. Ich kann deren Theorie nicht widerlegen, niemand kann das. Ich kann auch die Existenz des Weihnachtsmanns und des Osterhasens nicht widerlegen.

„No one suggests that the theory is not science, even though the historical process it describes cannot be directly observed, but must be inferred from currently available data. It is therefore puzzling that the denial of this inference, i.e., the claim that the evidence offered for the theory does not support the kind of explanation it proposes, and that the purposive alternative has not been displaced, should be dismissed as not science. The contention seems to be that, although science can demonstrate the falsehood of the design hypothesis, no evidence against that demonstration can be regarded as scientific support for the hypothesis. Only the falsehood, and not the truth, of ID can count as a scientific claim. Something about the nature of the conclusion, that it involves the purposes of a supernatural being, rules it out as science.“
(S.188 f.)

Wie zur Hölle soll die Wissenschaft die „design hypothesis“ denn widerlegen? Und warum sollte sie sich überhaupt einen feuchten Scheißhaufen darum scheren? Ich muss mir noch mal diesen Satz auf der Zunge zergehen lassen:

“The contention seems to be that, although science can demonstrate the falsehood of the design hypothesis, no evidence against that demonstration can be regarded as scientific support for the hypothesis.”

Zumindest hat er “support” und nicht “evidence” geschrieben. Aber stellen wir uns mal vor, ich fege den Satz „Es gibt keinen Weihnachtsmann, weil sein fliegender Wagen noch von niemandem gesehen und überzeugend dokumentiert wurde.“ mit dem Gegenargument „Sein fliegender Wagen ist unsichtbar.“ fort, inwiefern „unterstützt“ das meine Theorie, dass der Weihnachtsmann tatsächlich existiert? Ich habe immer noch keinen eigenen Beweis dafür vorgelegt, sondern warte nur darauf, dass jemand die Unmöglichkeit versucht, die Nichtexistenz zu beweisen und bekämpfe dann diesen Versuch.
Ich muss mich mit dem Zitieren etwas zurückhalten, sonst könnte ich auch gleich den ganzen Artikel hier reinkopieren.
Er geht jetzt also dazu über zu erklären, warum die Hypothese, dass genetische Mutationen übernatürlich beeinflusst werden, so sehr ignoriert wird. (Die korrekte Antwort darauf würde natürlich lauten: Aus dem selben Grund, weshalb meine Theorie, dass Johannes B. Kerner ein außerirdisches Killermonster mit Auftrag die Menschheit zu vernichten ist, ignoriert wird, nämlich dem, dass bedauerlicherweise keinerlei Beweise dafür vorliegen.)

“The premise is that the purposes and actions of God, if there is a god, are not themselves, and could not possibly be, the object of a scientific theory in the way that the mechanisms of heredity have become the object of a scientific theory since Darwin.
[…]
[T]he idea of a divine creator or designer is clearly the idea of a being whose acts and decisions are not explainable by natural law. There is no divine scientific psychology.”
(S.189)

Nur mal so gefragt: Angenommen es gibt Gott oder etwas vergleichbares. Warum sollte er/sie/es nicht irgendwann auf wissenschaftliche Weise erklärbar sein?
Nagel fährt fort und überlegt sich die folgende Frage:

“Are the sources of genetic variation uniformly random or not? That is the central issue, and the point of entry for defenders of ID.”
(S. 192)

Er führt hier z.B. das Konzept „Facilitated variation“, zu deutsch „Erleichterte Variation“ an. Soviel ich weiß, versteht sich dieses Konzept aber selbst als Erweiterung zur Darwinistischen Evolutionstheorie und das Buch „The Plausibility of Life“, welches Nagel an dieser Stelle anführt, richtet sich ausdrücklich gegen ID. Soweit ich das verstehe, geht es unter anderem darum, dass manche Elemente der DNA offener für Mutationen sind als andere. Die dem zugrundeliegenden Mechanismen entstanden selbst durch natürliche Selektion. Wenn diese Zusammenfassung einigermaßend zutreffend ist, wofür ich nicht meine Hand ins Feuer legen will, dann erklärt dieses Konzept eigentlich wie Mutation, die nicht vollständig zufällig ist, möglich wäre, allerdings ohne die Zuhilfenahme einer übernatürlichen Intervention.
Das wäre also ein ganz gutes Beispiel dafür, dass eine nicht hundertprozentige Zufälligkeit genetischer Variation noch lange kein Beweiß für irgendwas übernatürliches ist.

“But even if one merely regards the randomness of the sources of variation as an open question, it seems to call for the consideration of alternatives.”
(S.192)

Und dieser Prozess nennt sich Wissenschaft. Selbst wenn wir die Sache offen oder sogar noch negativer bewerten würden, gäbe es aber keinen Grund einfach irgendwelchen “Alternativen” den Vorzug zu geben. Nach wie vor warte ich auf auch nur den geringsten Beweis für ID.
Ich müsste eigentlich fast zu jedem Satz was schreiben, hab das aber nicht vor. Nagel scheint davon auszugehen, dass die Existenz eines Gottes oder einer übernatürlichen Intervention bei nicht vorhandenen Beweisen genauso wahrscheinlich ist, wie die Nichtexistenz.
Wahrscheinlichkeit misst den Grad der Möglichkeit, dass etwas wahr ist. Mal ein einfaches Beispiel. Wenn jemand auf der Straße zu dir sagt: „Morgen geht die Welt unter.“, ohne dafür Beweise zu liefern, gehst du dann davon aus, dass morgen mit fünfzigprozentiger Wahrscheinlichkeit die Welt untergeht?
Insofern springe ich jetzt einfach mal ein gutes Stück zum Ende zu einer besonders schönen Stelle.

“Sophisticated members of the contemporary culture have been so thoroughly indoctrinated that they easily lose sight of the fact that evolutionary reductionism defies common sense. A theory that defies common sense can be true, but doubts about its truth should be suppressed only in the face of exceptionally strong evidence.”
(S. 202)

Ich weiß nicht genau, welchen Reduktionismus er hier meint, aber schon wieder so ein Satz, den man sich auf der Zunge zergehen lassen muss: „…the fact that evolutionary reductionism defies common sense…“
Selbstverständlich stimme ich mit dem Wort Reduktionismus nicht überein, aber er setzt es ja hier sowieso mit der Evolutionstheorie gleich. Mein „common sense“ sagt genau das Gegenteil aus, aber zum Glück ist sein Bauchgefühl ja ein allgemeiner „fact“.

Bauer sucht Schlagzeile


Sims Alabim; 2009-12-15

Aktuelle Schlagzeile bei Web.de: Tränen beim Abschied von Milchbauer Josef

Ich weiß, wer mit den News auf der Startseite von Web.de Probleme hat, der hat echte Luxusprobleme und sollte sich einen neuen Email-Anbieter suchen.
Trotzdem möchte ich kurz auf ein bizarres Phänomen hinweisen; nämlich darauf, dass Inhalt und Fortgang von Sendungen wie “Bauer sucht Frau” genauso behandelt werden wie tatsächliche Ereignisse in Politik und Gesellschaft.
Max Goldt hat ja schon gesagt (und ich stimme ihm zu), dass Sportergebnisse in Nachrichtensendungen nichts zu suchen hätten, denn sie hätten denselben Nachrichtenwert wie Treppenhausklatsch, aber das schießt doch jetzt den Vogel ab.
Sollen wir uns jetzt schon Sorgen um die konstruierte Trennungsunschärfe zwischen Fiktion und Wirklichkeit machen, oder erst, wenn die aktuellen Cliffhanger aus der Lindenstraße als Schlagzeilen in der Bildzeitung auftauchen?

Spaß mit der Demokratie


Sims Alabim; 2009-12-10

Neulich war ich beim Rathaus am Marienplatz. Ich wollte für das Volksbegehren für den Nichtraucherschutz in Bayern unterschreiben. Als ich gesehen habe, dass die Schlange die komplette Frontseite des Rathauses entlang ging, und dann um die Ecke verschwand, dachte ich schon, ich gehe wieder, ich wollte schließlich noch ins Kino. Als ich dann gesehen habe, dass die Schlange um die Ecke noch eimal so lang war und beinahe schon wieder die nächste Rathausecke erreichte, habe ich mich komischerweise angestellt. (Später habe ich dann gesehen, dass es spiegelverkehrt noch eine zweite, ebenso lange Schlange gab. Das Rathaus war also zu 75 % von Nichtrauchern “umstellt”).

Ich bin ja normalerweise weder ein Freund demokratischer Veranstaltungen noch habe ich einen besonderen Kick dabei, wenn ich mich irgendwelchen Tätigkeiten anschließe, denen sich alle anschließen. Diesmal war es anders. Diesmal hat es ungeheuer Spaß gemacht, sich inmitten zahlreicher Weihnachtseinkäufer solidarisch mit denen zu erklären, die an ihrem Feierabend eine Dreiviertelstunde wegen einer Unterschrift in der Kälte stehen. Buchstäblich im Minutentakt wurde man von Passanten gefragt, wofür man denn hier anstehe und ob es etwas umsonst gäbe. Eine Frau meinte im Vorbeigehen, sie müsse nicht unterschreiben, sie sei schließlich schon seit 20 Jahren Nichtraucher. Einige (vorzüglich junge, hippe Typen) demonstrierten “uns” gegenüber Genervtheit, weil es doch schließlich ätzend sei, Abends beim Weggehen ständig zum Rauchen rausgehen zu müssen.

Ich finde es erstaunlich, was man alles für Argumente gegen ein generelles Rauchverbot in Gaststätten und Clubs findet. Die armen Raucher würden ausgegrenzt, die Nachbarn belästigt durch den Lärm vor der Tür, die Straßenreinigung müsse mehr arbeiten wegen den ganzen Kippen auf dem Bürgersteig, die Wirte machten weniger Umsatz, und in den Discos würde der Schweißgeruch auf einmal so unangenehm deutlich zu Tage treten.

Im Vergleich zu dem simplen Gedanken daran, wie gesund es ist, Zigarettenrauch “aktiv” oder “passiv” (also freiwillig oder gezwungenermaßen) einzuatmen finde ich all diese Argumente lächerlich, und ich bin mir sicher, jeder andere würde das genauso empfinden, wenn Zigaretten in den letzten fünf Jahren erst erfunden worden wären, und eine kleine Lobby von Abhängigen das Recht einfordern wollte, diese Droge an öffentlichen Plätzen oder gar in Lokalen, am Ende noch in Anwesenheit von Kindern, konsumieren zu dürfen.

Der Vergleich mag übertrieben wirken, aber für mich ist ein Rauchverbot in Gaststätten ein so selbstverständlicher Schritt für das Allgemeinwohl wie die Abschaffung der Sklaverei oder die Einführung von Sicherheitsgurten. Neben dem Dosenpfand vielleicht eine der wenigen vernünftigen politischen Initiativen der letzten Jahre. Aber kaum haben ein paar Entscheidungsträger in der Politik endlich Mal ein wenig Eier gezeigt, schon wird überall Geschrei laut. Es gibt immer irgendjemanden, der dann “Umsatzeinbußen” zu beklagen hat, und das scheint ja in Bayern eines der schlimmsten Totschlagargumente überhaupt zu sein. Man kann ja alles machen, so lange nicht irgendwem irgendwo der Umsatz einbricht. Also rudert die Politik zurück, entschärft, weicht auf, lässt verblassen, was einst einem minimalen Standart von gesundem Menschenverstand entsprochen hat. Und nun stellen sich also die Menschen auf die Straße, um kund zu tun, dass es einen beträchtlichen Anteil nicht herumquängelnder, nörgelnder Staatsbürger ohne Umsatzeinbußen gab, die mit dem Nichtraucherschutz scheinbar ganz glücklich gewesen sind. Ich war einer davon, und deswegen hatte ich meine Freude daran, in dieser Schlange zu stehen, und mich dort zwischen wildfremden Menschen nicht alleine zu fühlen.

Ich will aber auf einen ganz anderen Punkt hinaus. Jenseits der Demokratieseligkeit, die einen in so einer Schlange überkommen kann, hat mir die ganze Sache nur wieder vor Augen geführt, wer in einer Demokratie eigentlich das sagen hat: Nicht das Volk, sondern der Teil des Volkes, der am lautesten schreit, wenn ihm was wehtut. Nicht das Volk will den Nichtraucherschutz, sondern diejenigen, denen er wichtig genug ist, dafür zur Unterschrift anzustehen. Die Meinung der schweigenden Mehrheit fällt eigentlich nicht ins Gewicht, weil die schweigende Mehrheit meistens keinen Bock hat, sich für irgendwas in die Schlange zu stellen, Initiativen loszutreten, und ein Großteil davon geht auch nicht zur Wahl. Und das beste ist: Wenn sie es doch einmal tut, gibt es danach viele, die sich wünschten, sie hätte es nicht getan.

Ich kenne Leute, die sonst immer davon herumtönen, wie wichtig es sei, sich am demokratischen Prozess zu beteiligen, die am Wahlsonntag den “hat gewählt”- Button bei Facebook anklicken, und die nun sagen, dass sie nach der Entscheidung der Schweizer gegen Minarette ihre Einstellung zu Volksentscheiden noch einmal überdenken müssten. Hoppla, liebe linksliberale studentische Mitte:  Heißt das nicht, dass Demokratie nur dann toll ist, wenn die Ergebnisse auch so linksmittig ausfallen, wie man selbst gerne hätte? Was ist denn, wenn die Schweizer nun einmal antiislamistische Betonköpfe sind, die keine Minarette in ihrem Land haben wollen? Haben sie denn nicht das Recht dazu? Wenn in einer Demokratie tatsächlich das Volk regiert, muss diesem dann nicht auch grundsätzlich das Recht zugestanden werden, ein Volk von Arschlöchern zu sein, und dementsprechende Entscheidungen zu treffen?

Der Glaube an die Demokratie fußt auf drei unausgesprochenen Grundannahmen, die ich alle für sehr zweifelhaft halte: 1. Demokratisch getroffene Entscheidungen sind Mehrheitsentscheidungen. 2. Was die Mehrheit will, ist für die Mehrheit auch das beste. 3. Was das beste für die Mehrheit ist, ist fair, gerecht, und damit gut.

1. An jeglichem demokratischen Entscheidungsprozess, vom Volksentscheid bis zur Bundestagswahl, beteiligen sich immer nur diejenigen, die ein konkretes Anliegen haben, oder die noch genug Elan und Blauäugigkeit besitzen, um an die Möglichkeit echter politischer Veränderung zu glauben. Nun könnte man sagen, dass die Beteiligung ja dennoch jedem offen steht, und wer auf sein Recht verzichtet, die Stimme abzugeben, ist halt selbst schuld. Diese Sichtweise ist berechtigt, aber dann hieße das letztlich: Demokratie ist ein Club, in dem nur die Mitglieder entscheiden, was auf den Tisch kommt, während man diejenigen ignoriert, die mit der Speisekarte von Anfang an unzufrieden waren. An einer Wahl beteiligt sich nämlich nur, wer das, was zur Wahl steht, für bedeutsame Alternativen hält. Und dabei geht es nicht nur darum, an welchen Alternativen es oft mangelt, sondern auch, worüber man uns überhaupt Entscheidungsmöglichkeiten in die Hand gibt. Ich würde ja behaupten, dass viele der Schweizer, die sich gegen den Bau von Minaretten entschieden haben, diesen Standpunkt nur eingenommen haben, weil man ihnen überhaupt eine Wahl angeboten hat. Hätte es den Volksentscheid nicht gegeben, wäre es vielen von ihnen doch scheißegal gewesen, wer da irgendwo ein Minarett hinbaut. Jetzt aber kann die konservative “Volkspartei” so tun, als sei dies dem Volk schon immer ein großes Anliegen gewesen.

2. Nehmen wir einmal an, man würde aus Punkt 1 die Lehre ziehen, dass ein Volksentscheid nur Volksentscheid genannt werden kann, wenn nicht irgenein prozentualer Anteil der Bevölkerung, sondern 100% aller Wahlberechtigten ihre Stimme dazu abgeben. Jeder von uns würde per Post einen Stimmzettel bekommen und müsste seine Haltung zum Thema “Rauchen in der Kneipe” in die Form eines Kreuzchens in einem von zwei Kästchen gießen. Nehmen wir weiterhin an, die Raucher befänden sich in unserem Land in einer eindeutigen Mehrheit und hätten keinen Bock, zugunsten quengelnder Astmathiker und Kinder (die eh ins Bett und nicht in die Kneipe gehören) zum Rauchen immer vor die Tür zu gehen. Nehmen wir also an, ein ganzes Volk würde mit eindeutig feststellbarer Mehrheit seine Überzeugung kund tun, dass auch weiterhin überall geraucht werden darf, wo getrunken und gefeiert wird. Hat das Volk sich damit auf lange Sicht tatsächlich einen Gefallen getan?

3. Noch einmal zu den Minaretten. Nehmen wir sie einmal, Debatten über den generellen Wert von Religion und das Blabla über “islamistischen Terror” einfach außen vor lassend, als Symbol für die Möglichkeit einer eingewanderten Minderheit, ihre Kultur inmitten eines Landes auszuüben, in dem eigentlich eine andere Kultur vorherrschend ist; einfacher gesagt, als Symbol für Toleranz. Alle, die sich jetzt für das Schweizer Volk schämen, sind (meiner Meinung nach zurecht) der Ansicht, Toleranz sei ein ethisch und moralisch hochstehender Wert, eine Tugend, die wir in Zukunft dringend brauchen werden, um tödliche Konflikte zu vermeiden, und die wir daher pflegen sollten. Dennoch kann es durchaus denkbar sein, dass es den Schweizern faktisch besser geht, wenn sie unter sich bleiben, und Islamisten gar nicht erst ins Land lassen. Lasst uns also einmal annehmen, die Schweizer hätten in diesem Punkt nicht nur tatsächlich mehrheitlich, sondern auch tatsächlich zu ihrem eigenen Besten entschieden – auch wenn wir diese Entscheidung zurecht als intolerant erkennen. Haben wir jetzt das Recht, ja nicht sogar die Pflicht, dagegen zu gehen? Brauchen die Schweizer eine Lektion in Sachen Offenheit und Toleranz? Nicht, damit es ihnen besser geht, sondern damit die Welt in 500 Jahren vielleicht ein besserer Ort geworden ist? Hätte man also das moralische Recht, einen Volksentscheid zu übergehen, wenn man ihn für unmoralisch hält?

Wer jetzt ja sagt, muss zugeben, dass er nicht wirklich an Demokratie glaubt, in der alle Macht vom Volke auszugehen hat. Wer nein sagt, muss sich den Vorwurf gefallen lassen, dass die Politik, die er verteidigt, den Pragmatismus über den Idealismus stellt.

Ich für meinen Teil möchte an dieser Stelle die kühne und erst noch zu beweisende Behauptung aufstellen, dass die wenigsten Schritte, die der Mensch im Laufe seiner Geschichte hin zu einer freien und gerechten Gesellschaft unternommen hat, durch demokratische Entscheidungen und Prozesse zustande gekommen sind. Um Sklaven zu befreien, um die Apartheid abzuschaffen, um eine Gleichberechtigung von Mann und Frau zu erreichen, um behinderte Menschen in unsere Gesellschaft einzugliedern, und um irgendwann auch die Todesstrafe oder dieses scheiß Nikotin endlich loszuwerden, brauchen wir mehr als Unterschriftenlisten, Volksentscheide und Parteien, deren Regierungszeit von der Popularität ihrer Entscheidungen abhängt.

Die meisten Menschen, denen ich so etwas sage, legen mir daraufhin nahe, einen besseren Vorschlag zu machen. Ein Regierungssystem zu entwerfen, das die Möglichkeit hat, gegen den Willen eines Volkes aber dennoch in dessen Sinne zu entscheiden, und dem nicht die Gefahr innewohnt, zur Diktatur zu verkommen. So ein Konzept habe ich leider nicht in der Schreibtischschublade. Das hindert mich aber nicht daran, die gefeierte Demokratie trotzdem scheiße zu finden. Sie ist nicht demokratisch genug, um Korruption, Klüngelei und Lobbyismus in den alltäglichen Entscheidungen zu verhindern, aber auch nicht “diktatorisch” genug, um langfristige Entscheidungen treffen zu können, die möglicherweise unpopulär, letztlich aber ethisch gut und richtig sind. Deswegen haut das mit dem Atomausstieg und dem Klimaschutz auch nicht hin: Keine demokratische Regierung bleibt lange genug an der Macht, um die notwendigen Entscheidungen notfalls gegen den Willen des Volkes bis zum Ende ausfechten zu können (geschweige denn gegen den Willen der Leute mit den “Umsatzeinbußen”).

Die Lust auf Könige haben uns die Diktatoren ausgetrieben – also lassen wir uns von Krüppeln regieren, und ab und zu, wenn dabei zu wenig für uns abfällt, ersetzen wir einen Krüppel gegen den nächsten, geben ihm genauso viele Möglichkeiten, kurzfristig viel zu verbocken und genauso wenig Macht, langfristig viel zu verändern. Weil es damit nicht getan sein kann, wird es wohl noch lange dauern, bis ich auf Facebook den “hat gewählt”- Button anklicke. Lieber unterschreibe ich noch auf vielen anderen Listen, die leider meistens nicht die nötige Stimmenanzahl bekommen, um überhaupt ernst genommen zu werden. Ich beruhige mich damit, dass ich mir sagen kann: Weder heißt das Scheitern einer Bürgerinitiative, dass ihre Ziele falsch waren, noch heißt ein Volksentscheid, dass das Volk eine vernünftige Entscheidung getroffen hätte. Im Kasperletheater der Politik ist das leider alles relativ.