Eine andere gute Tat im Kontext


Sims Alabim; 2011-01-28

Gerade sah ich beim Einkaufen im Supermarkt einen vorbildlichen Einkäufer.

Da wo ich ein paar Jutebeutel dabei habe, um nicht dauernd aus Verlegenheit eine Plastiktüte erstehen zu müssen, war er gleich mit einem hölzernen Leiterwagen versehen, der es ihm erlaubte, weit größere Einkäufe co²-neutral an den heimischen Herd zu bringen, als ich dazu im Stande wäre. Sorgfältig prüfte der gute Mann Verpackung, Herkunftsland, Inhaltstoffe und Biozertifikat aller für seinen Einkauf in Erwägung gezogener Konsumgüter, und nur das Beste und Unbedenklichste schien gut genug für seinen Leiterwagen.

Ich bekam ein größeres schlechtes Gewissen, als ich es sonst beim Einkaufen  bekomme, denn dieser Mann machte mir vor, wie es noch besser geht.

Bis wir uns beim Milchregal in die Quere kamen.

Wie auch ich bevorzugte der Herr Milch der Marke ***** ; und zwar nicht fettarm, keine H-Milch, und natürlich in der ausspülbaren und wiederverwenbaren Flasche, dem Tetrapack gleichen Inhalts aus energetischen und abfallwirtschaftlichen Gründen natürlich vorzuziehen. Es waren noch vier Flaschen da und der Herr lud sie alle Viere in seinen Leiterwagen. Vielleicht hat er zu Hause viele Mäuler mit Müsli zu versorgen, vielleicht war das auch einfach sein üblicher Vorratseinkauf. Ich jedenfalls stand jetzt da und als einzige Wahl blieb mir entweder die ekelige fettarme Variante in der Flasche oder die leckere Milch im Tetrapack. Bevor ich mich letztlich für das Tetrapack und gegen mein Gewissen entschied, überlegte ich, wie es wohl wäre, den Herrn darauf anzusprechen, dass sein ihm unbedenklich und folgenlos erscheinender Vorratseinkauf an Flaschenmilch einen anderen, ebenfalls umweltbewußten Einkäufer zum Griff zur nicht recyclebaren Verpackung zwänge, und ob es nicht in unserem gemeinsamen, ja dem gemeinsamen Interesse seiner sowie meiner potentieller Nachkommenschaft läge, wenn er eine der Milchflaschen an mich abträte, um damit nicht durch seinen umweltschonenden Einkauf der direkte Urheber meiner Umweltsünde zu sein.

Vor meinem geistigen Auge entsponn sich darauf eine Szenerie, die einer Episode von “Curb your Enthusiasm” , der legendären Serie von Larry David über Minenfelder des sozialen Miteinander, würdig gewesen wäre.

Die Tatsache, dass mein Argument nur so lange haltbar sein würde, wie man von der Annahme ausging, dass außer uns Beiden kein dritter, vierter oder gar fünfter Einkäufer ebenfalls das Interesse an, und damit das Recht auf gewissensentlastende Flaschenmilch haben würde, war nicht der Grund, warum ich den Herrn nicht auf unser Dilemma ansprach.

Es war mir einfach zu blöd.

Eine gute Tat im Kontext


Cabuflé; 2011-01-09

Liebes Internetz-Weblog

Nach einem an sich außergewöhnlich schönen, aus gewissen Gründen für mich jedoch frustrierenden Tag kaufte ich heute ausnahmsweise eine NEON, um ein bisschen Hass zu tanken. In der U-Bahn dann gemerkt, dass ich sogar zu müde bin, mich aufzuregen. Artikel über Beischlafstellungen und junge Frauen in Führungspositionen mit wohlwollendem Desinteresse durchgelesen.

Danach habe ich bei Ikea, wo ich ein schmuckes Regal für Malibus und mein WG-Bad kaufte, ein kleines Kind vor einem schweren Unfall bewahrt. Im Erdgeschoss zogen Angestellte große Palettenwägen mit einem rechten Tempo hinter sich her, und als einer von denen das kleine Mädchen, vielleicht drei Jahre alt, nicht sah, das seinen Weg kreuzte, schrie ich laut “Achtung!” sprang dazwischen und hielt schützend meine Hand vor das Gesicht des Kindes. Der Mann brachte sein schweres Gerät zum Stehen, nur Zentimeter von dem kleinen Kopf entfernt.

Ich nahm den hastigen, schockierten Dank des Mitarbeiters unterkühlt entgegen und verschwand ohne den Dank der Mutter abzuwarten wie ein Superheld.

Und als ich mir Minuten später die Geschichte in Gedanken selbst erzählte, hätte ich gern gewütet über den unachtsamen Arbeiter und – mehr noch – die pflichtvergessene Mutter, die ihr Kleinkind in einem überfüllten Geschäft am Samstagabend einfach frei herumspringen ließ; ich wollte mich so richtig zünftig ärgern über all die dummen unnötigen Menschen, mit denen ich mich an einem ohnehin schon beschissenen Abend auseinandersetzen musste.

Es ging nicht.

Der Mann hatte mit Sicherheit den ganzen Tag für einen miserablen Lohn geschuftet und wollte  nichts anderes als seine Arbeit schnell und reibugslos zu Ende bringen. Da kann einen die Konzentration schon kurz verlassen. Die Mutter war dem Anschein nach alleinerziehend und hatte sich nach einem arbeitsreichen Samstag noch zum Möbelkauf geschleppt – mit Nachwuchs, denn der Babysitter für den Tag hat schon genug gekostet – sich umso mehr bemüht, ihre drei Kinder nicht die eigene Erschöpfung spüren zu lassen und in der zum erbrechen freundlichen Umgebung des Einrichtungshauses schlicht nicht mit dieser Art Gefahr gerechnet. Als ich sie später noch von weitem sah, hatte sie die Tochter auf dem Arm.

Wer wäre ich da, der nicht schuftet für sein Geld und mit Verantwortung für auch nur einen Mitmensch restlos überfordert wäre, diese braven Leute nicht zu schätzen, zu bewundern und heimlich in den Arm nehmen zu wollen?

Auf dem Heimweg noch bei Kaiser’s Lebensmittel eingekauft. Draußen rauche ich eine Zigarette, mit deren Resten ich alsbald den öffentlichen Raum zumülle und trinke einen Banane-Ananas-Smoothie zur Seelentröstung. Nicht Cola, wie früher. Das ist doch schon ein Fortschritt, oder?

Gezwungenermaßen Gedichtetes


Cabuflé; 2010-09-29

1.
Spieglein, Spieglein an der Wand,
Sag und wäge mit Verstand:
Ist mein Körper zu begehren?
Wenn nein: Wo kann ich mich beschweren?

2.
Die Wahrheit ist ein Freudenhaus
Dein Weltbild eine Eisenfaust
Die Faust zerschlägt das Haus
Und aus.

3.
Einst fragte eine Maus die Schlange:
Was ist des Lebens Sinn?
Die Schlange sprach: Dass ich dich fange!
So schied die Maus dahin.

Der Geruch der Schienen in Dorfbahnhöfen


Sims Alabim; 2010-06-18

Staubige Asphaltstraßen, nach langer Trockenheit zum ersten Mal wieder von einem sanften Sommerregen benetzt.
Das Chlorwasser eines Schwimmbeckens, dazu Sonnencreme.
Sonnencreme und dazu der Gummigeruch einer neuen, zum ersten Mal aufgepumpten Luftmatratze.
Der Geruch eines Seeufers, zusammengesetzt aus Schilf, Schlamm, Moder (auch hier vielleicht noch eine Spur der unvermeidlichen Sonnencreme) und anderen, geheimnisvollen Ingredienzien des Seewassers, von denen wir vielleicht auch gar nicht genau wissen wollen, woraus sie bestehen.
Gemähtes Gras auf einer Wiese, das sich in den Sonnenstrahlen langsam in trockenes Heu verwandelt.
Das sind Gerüche, denen man in jedem Sommer neu begegnen kann, wie guten, alten Freunden.

Einen anderen Geruch gibt es aber, den man nur noch selten trifft, und den man gerade deshalb hüten sollte wie einen Schatz. Das ist der Geruch der Gleise in der Sommerhitze an einem alten Dorfbahnhof.

Vielleicht hat es damit zu tun, dass heute keine Holzbohlen mehr verwendet werden. Dieses tiefdunkle, spröde gewordene Holz, meistens unter rostrot gewordenen Schienen, und auf rostbraunem, irgendwie an Kohlestücke erinnernden Schotter. Vielleicht hat es auch damit zu tun, dass man sich, je älter man wird, immer seltener für längere Zeit an diesen Bahnhöfen aufhält, wo alle Stunde einmal ein Zug vorbeikommt.
Die rostigen Schienen mit der blank polierten Oberfläche beginnen zu singen, dann rauscht ein Güterzug vorüber, und auf der endlos erscheinenden Schar von immer gleichen Wagen, die er hinter sich herzieht, stehen entweder Neuwagen, oder stapeln sich Baumstämme. Dann wird es wieder still, der Geruch der Schienen steigt mit der flirrenden Hitze wieder hinauf, während man weiterhin auf dem menschenleeren Bahnhof sitzt und sich die Zeit bis zur Regionalbahn vertreibt.
Man ist natürlich nicht allein, man ist immer zu zweit, mindestens. Die nassen Haare sind längst getrocknet, nur das in den Rucksack gestopfte Handtuch ist noch feucht. Vielleicht hat man sich noch etwas von den Süßigkeiten aus dem Schwimmbad aufbewahrt, vom Ahoi-Brausepulver, das man sich in die verschwitze Handfläche schüttet und von dort ableckt, von den weißen Mäusen, den Schlümpfen, die immer in den Zwischenräumen der Zähne kleben bleiben, von den billigen Kaugummis, die in einen Aufkleber von Alf oder Knight Rider eingewickelt sind. Man ist vielleicht zwölf Jahre alt.

Die Tage erstrecken sich endlos, zwischen Morgen und Abend ist immer Platz für mehr als ein Abenteuer. Man denkt keinen Augenblick darüber nach, dass es verlorene Zeit sein könnte, eine Dreiviertelstunde am Bahnhof auf einen Regionalzug zu warten, mit dem man dann eine Station zu fahren hat. Warum sollte man über Zeit nachdenken? Es ist Sommer.
Der Weg zum Kaugummiautomaten drei Häuser weiter ist schon eine Unternehmung, Zehnpfennigstücke eine gebräuchliche Währung, ein zerknitterter Zwanzigmarkschein im Geldbeutel ein Schatz.
In das kleine, hügelige Wäldchen hinter dem Haus meiner Großeltern passt sieben Mal der Sherwoodforest, der Fangornwald, der Planet Eternia und der Truppenübungsplatz einer Armee ohne Fahnen, Feinde oder Ideologien, der es genügte, Armee zu sein und den Flugzeugen befreundeter Armeen auf den mit Gartenschäufelchen in Erdhügel gegrabenen Flugfeldern Landeerlaubnis zu erteilen.

Schon alt genug, um ganze Tagesabläufe vollkommen ohne die Zuwendung erwachsener Bezugspersonen bestreiten zu können. Noch jung genug, um für nichts Verantwortung zu spüren.
Man weiß es zu diesem Zeitpunkt noch nicht, man wird es erst viele Jahre später beim Geruch der schweren, alten, rußigen Holzbohlen in der Sommerhitze begreifen, aber in diesen wenigen Sommern, in denen man zwölf Jahre alt ist, gehört einem, zum ersten und einzigen Mal in seinem Leben, die Welt.

Gesang


Malibu Aircraft; 2010-06-05

Eine dunkle Wolke hebt sich über das Land. Ein Land der Freiheit ist es, mit grünen Hügeln und prächtigen Bäumen an die sich saftige, farbenfrohe Früchten klammern, fett und schwer und kurz davor zu fallen. Doch über die Idylle zieht nun besagte Wolke in deren Innern ein Sturm tobt, ein Sturm, welcher sich ausgedacht wurde von einem Mann.
Dieser Mann saß nur wenige Stunden zuvor in seinem Labor, das hoch in einem steinernen Turm lag. Er dachte über sein Leben nach, die Entscheidungen, die er bisher getroffen oder die für ihn getroffen worden waren, von anderen Menschen oder von den Umständen oder von Kräften, die außerhalb seiner Wahrnehmung lagen. Und als er über sein Leben nachdachte, überkam ihn eine große Wut. Er tauchte ein in alternative Realitäten, parallele, wenn auch nur vorgestellte, Universen, in welchen er ein großer Feldherr, ein Entdecker oder ein begnadeter Liebhaber war. Dann sah er sich im Spiegel und seine Augen nahmen einen erschreckenden Glanz an.
Ich fürchtete mich sehr vor ihm, in diesem Moment. Mein Name ist Gerlinde Maserati Uterus und ich bin des Forschers Kanarienvogel. Wie konnte ich wissen, an was er alles dachte? Nun, der Herr spricht sehr gerne, was er denkt, was die Situation nicht gerade weniger beängstigend macht. In dem ehrlichen Versuch den Herrn zu beruhigen zeigte ich mein gelb-weißes Federnkleid von allen Seiten und sang. Ja, meine Stimme ist wirklich mein Stolz. Die Menschen haben uns Kanarienvögel zu wahren Gesangsdiven gezüchtet, während sie bei ihren anderen Domestizierungsprojekten nur auf das Äußere schauten. Doch die Generationen daraufhin ausgerichteter Zucht nützten diesmal nichts. Es schien sogar, als zöge ich in genau dem falschen Augenblick seine Aufmerksamkeit auf mich.
Mit wütendem Blick und einem Selbstgespräch, dass ich mittlerweile nicht mehr verstand, da es sich in ein bösartiges Grummeln und Zischen verwandelt hatte, kam er auf meinen Käfig zu. Er öffnete die Tür und griff in meine kleine Welt, umschlang mich mit seinen dürren Fingern und trug mich herüber zu seiner neuesten Kreation, einer Maschine in runder Blechform mit zahlreichen bunten Lichtern. Ja, der Herr hatte schon immer eine Vorliebe für Klischees gehabt, wenn es um Design ging.
Er öffnete eine kleine Metalltür und warf mich in das dunkle Loch. Ich wusste nicht wo ich war. Es war sehr eng hier, ich flatterte wild herum, aber stieß mich ständig und gab das Geflatter schließlich auf. In den letzten Monaten hatte der Herr immer wieder an dieser Maschine gearbeitet, aber ich wusste nicht, worum es sich bei ihr handelte. Normalerweise bekam ich immer mit, woran er arbeitete, wegen seinen exzessiven Selbstgesprächen, doch immer wenn er an ihr herumhantiert hatte, konnte ich nur ein leises Kichern vernehmen und immer wieder waren mir auch die kurzen Blicke aufgefallen, die er mir zugeworfen hatte, gefolgt von einem noch deutlicherem Kichern und einem schelmischen Händereiben. Ich hatte diese Blicke bisher als Einbildung abgetan, was hätte ich auch tun können in meinem Käfig, außer wahnsinnig zu werden, hätte ich geahnt, was auf mich zukommen würde.
Als ich nun in der engen Kammer saß, hörte ich verschiedene Stimmen, die sofort in vielen blechernen Echos wiederhallten und das auf so eine Weise, dass es mir unmöglich war, festzustellen wo sie ursprünglich herkamen. Sie redeten allesamt wirres Zeug, erzählten vom Wetter, dann weinten sie, dann lachten sie wie Bekloppte, dann flüsterten sie verführerisch, dann hielten sie ernste Vorträge über philosophische Themen und so weiter. Es schienen mir aber alles Monologe zu sein, ich konnte jedenfalls nicht erkennen, dass sie sich im gegenseitigen Kontakt befanden.
Was konnte ich tun? Natürlich nur das einzige was ich überhaupt tun konnte, nämlich zu singen wie eine Blöde. Ich gab mein Bestes, legte eine Hitnummer nach der anderen hin, wechselte von stürmischer Stimmakrobatik zu sanfter Ballade und verlor mich ganz in meiner eigenen Grandiosität. Und dann, nach einer Weile, als mir die Melodien müheloser, aber genauso virtuos, aus dem Schnabel glitten, bemerkte ich, dass die Stimmen fast ganz aufgehört hatten. Nur ab und zu vernahm ich ein beeindrucktes Flüstern oder eine leises Mitsummen. Ich sang noch ein bisschen weiter und hörte dann auf, um mich ein bisschen zu schonen, schließlich wusste ich nicht, wie lange ich hier noch bleiben müsste.
Doch kaum hatte ich geendet, begannen einige Stimmen mich zu loben und beeindruckt Worte zu verlieren. Ja, ich hörte sogar frohes Schniefen und tränengetränkte Laute. Doch etwas anderes erstaunte mich. Die Stimmen schienen nun in Kontakt zu treten und aufeinander zu reagieren. Hatten sie sich bis eben nur auf sich selbst konzentriert und waren völlig in sich selbst versunken, dann hatte die Fokusverschiebung nun womöglich dazu gedient sie auch aufeinander aufmerksam zu machen. Ich hörte frohe Grüße, Austausche über alle möglichen, oberflächlichen wie tiefgründigen, Themen.
Dieses Geplapper schien mir zuerst um einiges angenehmer, als die ungerichteten, selbstverliebten Monologe von eben. Doch nun kamen mehr und mehr neue Stimmen dazu, die sich in die Gespräche einbringen wollten und die offensichtlich von dem aufregenden Trubel angezogen worden waren.
Ich erkannte auf einmal eine ältere, weibliche Stimme. Es war die Stimme der Mutter des Herrn, die ihn, in all meiner Zeit im Turm, nur einmal besucht hatte. Ich hörte noch eine weitere bekannte Stimme, es war die eines Mädchens, das fast jeden Dienstag am Turm vorbeiging und sang, jedes Mal verträumt beobachtet vom Herrn. Und da war der Geldgeber, der Schreihals, von dem mein Herr abhängig war und der in regelmäßigen Abständen vorbeikam, um die Arbeit zu kontrollieren.
Doch bald schwoll dieses Gerede so an, dass es kaum noch möglich war, einzelne Personen herauszuhören und es wurde, der Masse wegen, auch immer unerträglicher. Ich setzte wieder zum Singen an, doch mein graziöser Gesang ging völlig unter, denn das ganze hatte mittlerweile eine Lautstärke erreicht, die ich unmöglich noch übertönen konnte.
Plötzlich platzte laut dröhnend die Stimme meines Herrn von oben herab und wieder verstummte alles andere:
„Hab ich euch endlich alle beisammen! Adieu und auf nimmerwiedersehen!“
Kaum waren diese Worte gesprochen, brachte die schiere Panik aus. Doch es war zu spät. Ich verspürte einen kräftigen Zug und ich fühlte, wie ich mit all den anderen hinauskatapultiert wurde. Alles wirbelte durcheinander und es dauerte Stunden, bis ich meine Orientierung einigermaßen wiedergewann.
Ich war und bin seitdem in einer Wolke aus Stimmen gefangen, selbst auch nicht mehr als eine der anderen. Ich muss gestehen, ich fühle mich immer leerer. Das schöne Land über das wir fliegen, scheint zu ergrauen, sobald wir näherkommen.
Mein Gesang ist nur noch ein Krächzen. Trotzdem kann ich damit sogar noch ab und zu ein paar der anderen um mich scharren.
Gestern näherten wir uns, gezogen von einem seltsamen Hunger und einer unstillbaren Lust einem jungen Mann, der fröhlich auf dem Weg spazierte. Doch auf einmal schien er etwas zu spüren und beeilte sich, davon zu kommen. Es war so knapp. Fast hätten wir ihn gehabt. Doch unser zunehmender Hunger macht uns schneller. Es ist nur noch eine Frage der Zeit bis unser Durst gestillt wird. Nur eine Frage der Zeit, bis wir uns an jemandem laben können.
Und dann. Dann werde ich auch wieder stark genug sein, um singen zu können.
Und diese Person wird mich hören.
Bald.

Gedicht (ich klick mal bei Kategorien “Kultur” an, obwohl das ja eigentlich eine Vorannahme ist, die mir nicht zusteht. Eigentlich sollte man ja nicht soviel in die Ãœberschrift schreiben. Aber jetzt habe ich sogar noch mehr geschrieben. Ach, die Ironien des Lebens. Ich sollte aufhören. Entschuldigung. Ich bitte um Vergebung für alles! Ähm, ja, stopp jetzt. Meine Finger hören nicht auf zu tippen! Neinnnnn….. )


Malibu Aircraft; 2010-05-28

Du kannst dich nicht verstecken,
die Welt wird dich entdecken.
Du kannst nicht etwas ausperrn,
kannst dich nicht deiner selbst erwehrn.

Willst du dich nicht vernichten,
willst du dich nicht belügen,
dann versuche nicht zu dichten
und versuche nicht zu lieben.

Solln die Versuche wahrhaft sein?
Das geht,
doch niemals geht es ganz allein.
Du brauchst
die Freunde der Vergangenheit,
Erinnerungen, Lebenszeit,
die Freunde aus dem Hier und Jetzt,
Erleben, das entgegensetzt,
die Freunde aus was-vor-dir-liegt,
noch immer frisch und unbesiegt.
Du brauchst,
was du an dir nicht kennst,
dass du dich nicht in dir verrennst.

Categories : Belletristik  Kultur

Dialog in der U1


Cabuflé; 2010-05-06

Autobiographisches Dramolett für zwei Ernst-Busch-Absolventen und diverse Statisten

A: (mit Blick zum U-Bahn-Fernsehen) Was? Nacktbilder von Lena Meyer-Landrut?

B: Ja, hast du das nicht mitgekriegt?

A: Nein…

B: Das ist doch seit ein paar Tagen der youtube-Knüller.

A: Ach youtube? Dann sieht man ihre Titten ja gar nicht.

B: Doch, schon.

A: Was? Auf youtube? Da sind doch keine Titten erlaubt.

B: Wie bitte?

A: Also, wenn jemand es meldet, dann wird es gelöscht.

B: Na ja, ganz kurz halt. So halb. (Pause) Aber ohnehin ist das ja so’n Fall, wo man sich fragt, warum einen das jetzt interessieren soll – Nacktbilder von Lena Meyer-Landrut.

A: Ja, schon, aber ich muss mir das natürlich jetzt trotzdem gleich wenn ich nach hause komm anschauen.

B: Natürlich, ich hab’s mir ja auch angeschaut.

Ansage: Nächste Haltestelle: Kottbusser Tor; Ãœbergang zur U8.

A: Als ich letzte Woche deinen kleinen Bruder besucht habe, hat sich übrigens herausgestellt, dass Benjamin Blümchen in dem geheimen Harem im Führerbunker mit seiner Sacknaht an der Scheide von Lena Meyer-Landrut hängengeblieben ist.

B: Haha. (Pause) War die dann innen oder außen?

A: Was? Na, äh, außen. Sacknaht halt.

Einige Mitreisende schauen peinlich berührt.

B: Du sagst das sehr gerne, oder?

A: Was? Sacknaht?

B: Ja.

A: Ja, selbstverständlich. (Pause) Sacknaht.

Vorhang, Applaus.

Regen


Malibu Aircraft; 2010-04-04

Die Nacht hat ihre Pforten geöffnet. Auf den Straßen glänzt der Regen und die reflektierte Leuchtreklame in den Pfützen sagt dir mehr über deine Zeit und über dich, als du eigentlich wissen willst. Du gehst in einen Club, du trinkst, du tanzt, du lernst jemanden kennen. Ihr geht nach draußen, es ist Vollmond.
Doch jetzt ändert sich die Wirklichkeit mit einem Mal, etwas verändert dich. Du siehst ein Bild, deine neue Bekanntschaft wird haariger, verwandelt sich unter schmerzvollen Zuckungen in ein Biest, ein mörderisches Wesen, einen Werwolf.
Du zwinkerst. Alles ist wieder normal. Die Wirklichkeit ist so wie sie ist und nicht anders.
Ihr geht die Straßen entlang. Der Wind bläst, es tut so gut ihn im Gesicht zu spüren, einen Rest der Wildheit der Natur, die aus dieser Stadt verbannt wurde zugunsten einer anderen Wildheit, einer Wildheit, die niemand versteht.
Du hältst die Hand deiner Bekanntschaft.
„Wäre es nicht schön“, sagst du. „oder erstaunlich oder vielleicht auch erschreckend, jedenfalls aufregend, wenn sich alles ändern würde, die Welt, unsere Leben, von einem Tag auf den anderen.“
Und ihr spielt Szenarien durch, was würde geschehen wenn. Und du erinnerst dich an einen Moment, als du noch ein Kind warst und nach oben in den Nachthimmel geblickt hast und die Sterne gesehen hast und du warst dort. Du warst an diesen anderen Orten, in den fernen Sonnensystemen dieser Sterne, du warst dort, du hast die außerirdischen Wesen gesehen, andere Welten, farbenreich und so spannend, so wunderbar fremd und neu.
Und jetzt schaust du nach oben und ja, es ist schön und ja, es ist einzigartig, die Sterne, der Himmel, der selbe Mond, den die großen Frauen und Männer der Geschichte auch bewundert haben, das ist schon was, das ist schon erstaunlich. Aber du bist eben hier auf der Erde und das wird sich auch nicht ändern.
Aber wenn sich alles ändern würde, von einem Tag auf den anderen, dann wäre alles anders.
Deine Begleitung raucht, ist gut angetrunken, aber vielleicht bist du das ja auch, du bist dir nicht ganz sicher, sie schaut dich an, mit großen Augen, einem freundlichen Grinsen und du lächelst.
Ein Licht umhüllt euch und ihr werdet emporgehoben. Eine tiefe Stimme sagt:
„Ihr wurdet auserwählt. Das Schicksal der Menschheit liegt in euren Händen. Ich werde euch in eine andere Welt schicken, wo ihr zusammen gegen dunkle Mächte kämpfen werdet. Ihr könnt sie klar erkennen, sie tragen Hörner und lachen auf diabolische Weise. Ich werde euch mit erstaunlichen Kräften ausstatten, ihr werdet fliegen können und stark sein und…“
Irgendwo zerbricht eine Flasche, Menschen lachen, das Licht erlischt, die Stimme grummelt noch „Och, hmm, vielleicht auch nicht…“ und löst sich dann auf.
„Hallo.“ sagst du zu der Person, die vor dir steht.
„Hallo.“ sagt sie zurück und die Augen dieser anderen Person lächeln.
Die Person küsst dich und du kannst dir nicht helfen, du weißt nicht warum, aber eine Träne löst sich aus deinem Auge. Die Person küsst die Träne weg.
Ein seltsamer Moment, bevor du sie zu dir einlädst, sie wirkt verlegen, lächelt, lehnt dankend ab, aber gibt dir ihre Nummer, bevor sie in die Dunkelheit verschwindet.
Du verfluchst dich mal wieder und natürlich die Welt, denn die Welt eignet sich nun mal so hervorragend zum Verfluchen, verfluchst diese Träne, verfluchst den Regen, der jetzt wieder einsetzt. Ein bisschen früher und das Weinen des Himmels hätte dein eigenes ertränken können, aber nein; und ein bisschen verfluchst du auch die andere Person, die für einen Moment so getan hatte, als wäre sie keine fremde Person, obwohl sie es natürlich war.
Du bist müde, willst ins Bett, willst schlafen, dich den Träumen ergeben, die bereits knapp am Rande deines Sichtfelds in die Wirklichkeit dringen.
Aber etwas hält dich hier an diesem Ort. An diesem Leben. An dieser Welt. Was wäre, wenn?
Diese Frage. Wenn es die nicht gäbe.
Was wäre dann?

Sisyphos GmbH und Co. KG


Sims Alabim; 2010-02-23

Mein inoffizieller Beitrag zu Grotemsons Reihe “Was machen eigentlich die Mythen der Antike?”

Camus schrieb, wir müssten uns Sisyphos als einen glücklichen Menschen vorstellen.

Ich glaube, wir müssen uns Sisyphos als einen Entrepeneur vorstellen.  Längst ist er durch seine Beschäftigung mit dem Stein zu einem großen Arbeitgeber geworden. Er lässt Kräne bauen und Rampen errichten und Flaschenzüge erfinden und Berghänge abtragen. Er lässt sich Erfolgsprognosen, Erosionsmodelle und Gravitationskoeffizienten in Form von Tabellen, Kurven und Diagrammen auf Flipcharts vorführen. Er stellt Manager ein, optimiert Arbeitsabläufe und verlangt von seinen Projektleitern Ergebnisse. Er hat ein einprägsames Logo und einen Internetauftritt. Alle 50 Höhenmeter feiert er einen Etappensieg. Im alten Tempel von Delphi kürt er den Mitarbeiter des Monats. Und wenn es einmal wieder bergab geht, lässt er sich vom Staat ein finanzielles Rettungspaket schnüren.

Ich glaube, so müssen wir uns heute Sisyphos vorstellen.

Himmel und Engel und so


Malibu Aircraft; 2010-01-17

Im Angesicht des Augenblicks erstarrte das Wesen eines Engels im Zentrum seiner Existenz und schrumpfte zusammen. Dann verwandelte es sich aus Bescheidenheit in ein getrocknetes Blatt und verschwand, als ein Kind es nahm und zwischen den Fingern zerbröseln lies.
Daraufhin beschloss der Große eine Seelsorgenhotline für seine Engel einzurichten, denn neue Engel zu erschaffen war sehr schwer.

Der erste Anruf kam vom Engel Gabriel:
„Das Feuer ist heiß und der Himmel ist blau. Ich wünschte, es wäre umgekehrt, doch es ist eine Entscheidung, die unser Herr am Anfang halt mal so getroffen hat. Warum soll es bis in alle Zeiten feststehen? Wer gibt ihm das Recht? Ich verlange Mitbestimmung! Ich verlange demokratische Rechte! Ich verlange Partizipation! Wie vielen von uns will er noch zusehen, wie sie von Depressionen aufgefressen werden, weil ihnen die Sinnlosigkeit des eigenen Seins mit quälender Stärke bewusst wird? Immer diese Hierarchie! Jede Firma weiß doch heute, dass man den Mitarbeitern auch ein bisschen Entscheidungsfreiraum lassen muss. Ich will ja nicht undankbar erscheinen, aber wer garantiert denn, dass er immer alles am besten weiß?“
„Beruhige dich, Bruder. Ich werde ihm deine Beschwerden weiterleiten. In der Zwischenzeit gönn dir mal ein Auszeit und geh ein bisschen Wolkensurfen.“

Der zweite Anrufer war Michael:
„Es ist mir wirklich peinlich, hier anrufen zu müssen. Ich hoffe, niemand bestreitet meine Treue zum Großen, die ich ja hoffentlich zu genüge bewiesen habe.
Aber mich plagen schon lange Zweifel, die ich einfach nicht ignorieren kann. Bis heute weiß ich nicht, was passiert wäre, hätte ich Abraham nicht diesen Widder geschickt. Der hätte doch glatt seinen eigenen Sohn kalt gemacht. Und unser Großer saß einfach so da und sah sich das an. Ich weiß nicht, ob er wütend auf mich war. Manchmal glaube ich, er wird senil.“

Der nächste Anruf kam von Luzifer:
„Ja, servus! Wollt mich nur auch mal melden. Aber nur aus Spaß. Werd jetzt n paar Furzgeräusche machen und dann wieder auflegen…“

Dem Großen wurden alle diese Beschwerden weitergeleitet und er grummelte ärgerlich, als er sie laß.
„Undankbare Mistköter. Na gut. Einverstanden. Mir doch egal. Ich hab auch keine Lust mehr. Ganz ehrlich.“
Und er blähte sich auf, bis man ihn im ganzen Himmel sehen konnte und verpuffte dann in einem Pubs.

Die Engel stritten sich um seine Nachfolge und beschlossen dann nach viel Leid, das durch Intrigen und Machkämpfe angerichtet worden war, eine möglichst direkte Demokratie einzurichten.
Schon bald beschlossen sie einige Resolutionen: Feuer sollte von nun an blau sein, der Himmel heiß, Wasser konnte sich von nun an frei entscheiden, ob es auf- oder abwärts fließen wollte, Berge wurden mit Marmortreppen ausgestattet, Wolken wurde gestattet, sich mit den Menschen zu unterhalten, die Nacht wurde um einige Stunden verlängert, so dass jeder genügend Schlaf bekommen konnte und Regenbögen waren ab jetzt essbar.
Es wurde außerdem beschlossen, dass es oberste Priorität hatte, die ständigen Kriege, Hungersnöte und Naturkatastrophen auf der Erde zu bekämpfen. Luzifer verhielt sich diesbezüglich wie immer bockig. Aber die Engel begriffen bald, dass sie mit vereinigter Kraft mit dem Kerl eigentlich fertig werden sollten und durch geschickte psychologische Kriegsführung konnte er schließlich überwältigt werden. Die Hölle wurde geschlossen und Luzifer in ein Rehabilitationsprogramm gesteckt.

Für einige hundert Jahre ging es auf der Erde und im Himmel sehr gut zu. Die Menschen machten erstaunliche technologische Fortschritte, die Künste florierten, die Meere und das Weltall wurden erforscht und erschlossen. Doch die Entwicklungen der Wissenschaft ermöglichten den Menschen bald, die dimensionale Frequenz des “Himmels” zu entschlüsseln. Nun sahen sie die Engel und nahmen mit ihnen Kontakt auf. Sie verlangten, dass die Engel ihre Macht mit den Menschen teilen sollten.
Die Engel argumentierten, dass der Himmel für das Herrschen über die Menschen zuständig war und dass es für sie keine Funktion mehr gab, würde man ihnen diese Aufgabe nehmen. Sobald sie obsolet würden, würde die Dimension, in der sich der Himmel befand, einfach kolapieren.
Darüber waren die Menschen zwar verärgert, doch sie nahmen es erst einmal hin.
Nun jedoch bekamen einige Engel Angst. Waren sie denn nicht längst obsolet geworden? Wenn die Menschen theoretisch auch die Mächte des Himmels übernehmen könnten, wozu waren sie dann eigentlich noch da? Könnte das Kolapieren nicht unmittelbar bevorstehen?
Und tatsächlich: Kaum war dieser Gedanke gedacht, verschwanden die Engel nacheinander und der Himmel begann sich aufzulösen.

Nur ein Engel konnte sich retten.
Er hatte seinen Fehler begriffen. Er erschuf eine neue Welt, war dabei auch vorsichtig genug, sie nicht zu perfekt zu machen, schuf ein paar unsinnige Regeln, die die Menschen auf Trapp halten sollten und schließlich ein paar Unterengel, die weniger Macht hatten als er selbst. Einen davon mobbte er solange, bis dieser sich gegen ihn wandte und eine Hölle einrichtete.
Als das endlich geschafft war, seufzte Gabriel erleichtert, legte die Füße hoch, öffnete sich ein Bier und schaute erst mal ein bisschen fern. In der Werbepause warf er einen kurzen Blick nach unten und sah beruhigt das Chaos und verwirrte Rumdackeln der Menschen, die, ihm-selbst-sei-dank, nicht das geringste von ihrer eigenen Existenz verstanden.