Cabuflé; 2010-05-06
Autobiographisches Dramolett für zwei Ernst-Busch-Absolventen und diverse Statisten
A: (mit Blick zum U-Bahn-Fernsehen) Was? Nacktbilder von Lena Meyer-Landrut?
B: Ja, hast du das nicht mitgekriegt?
A: Nein…
B: Das ist doch seit ein paar Tagen der youtube-Knüller.
A: Ach youtube? Dann sieht man ihre Titten ja gar nicht.
B: Doch, schon.
A: Was? Auf youtube? Da sind doch keine Titten erlaubt.
B: Wie bitte?
A: Also, wenn jemand es meldet, dann wird es gelöscht.
B: Na ja, ganz kurz halt. So halb. (Pause) Aber ohnehin ist das ja so’n Fall, wo man sich fragt, warum einen das jetzt interessieren soll – Nacktbilder von Lena Meyer-Landrut.
A: Ja, schon, aber ich muss mir das natürlich jetzt trotzdem gleich wenn ich nach hause komm anschauen.
B: Natürlich, ich hab’s mir ja auch angeschaut.
Ansage: Nächste Haltestelle: Kottbusser Tor; Übergang zur U8.
A: Als ich letzte Woche deinen kleinen Bruder besucht habe, hat sich übrigens herausgestellt, dass Benjamin Blümchen in dem geheimen Harem im Führerbunker mit seiner Sacknaht an der Scheide von Lena Meyer-Landrut hängengeblieben ist.
B: Haha. (Pause) War die dann innen oder außen?
A: Was? Na, äh, außen. Sacknaht halt.
Einige Mitreisende schauen peinlich berührt.
B: Du sagst das sehr gerne, oder?
A: Was? Sacknaht?
B: Ja.
A: Ja, selbstverständlich. (Pause) Sacknaht.
Vorhang, Applaus.
Sims Alabim; 2010-04-30
Du möchtest Mauern einrennen.
Du könntest Bäume ausreissen.
Du willst neue Gipfel besteigen.
Du wärst bereit, in See zu stechen.
Aber um Dich herum ist nur Wüste.
Malibu Aircraft; 2010-04-04
Die Nacht hat ihre Pforten geöffnet. Auf den Straßen glänzt der Regen und die reflektierte Leuchtreklame in den Pfützen sagt dir mehr über deine Zeit und über dich, als du eigentlich wissen willst. Du gehst in einen Club, du trinkst, du tanzt, du lernst jemanden kennen. Ihr geht nach draußen, es ist Vollmond.
Doch jetzt ändert sich die Wirklichkeit mit einem Mal, etwas verändert dich. Du siehst ein Bild, deine neue Bekanntschaft wird haariger, verwandelt sich unter schmerzvollen Zuckungen in ein Biest, ein mörderisches Wesen, einen Werwolf.
Du zwinkerst. Alles ist wieder normal. Die Wirklichkeit ist so wie sie ist und nicht anders.
Ihr geht die Straßen entlang. Der Wind bläst, es tut so gut ihn im Gesicht zu spüren, einen Rest der Wildheit der Natur, die aus dieser Stadt verbannt wurde zugunsten einer anderen Wildheit, einer Wildheit, die niemand versteht.
Du hältst die Hand deiner Bekanntschaft.
„Wäre es nicht schön“, sagst du. „oder erstaunlich oder vielleicht auch erschreckend, jedenfalls aufregend, wenn sich alles ändern würde, die Welt, unsere Leben, von einem Tag auf den anderen.“
Und ihr spielt Szenarien durch, was würde geschehen wenn. Und du erinnerst dich an einen Moment, als du noch ein Kind warst und nach oben in den Nachthimmel geblickt hast und die Sterne gesehen hast und du warst dort. Du warst an diesen anderen Orten, in den fernen Sonnensystemen dieser Sterne, du warst dort, du hast die außerirdischen Wesen gesehen, andere Welten, farbenreich und so spannend, so wunderbar fremd und neu.
Und jetzt schaust du nach oben und ja, es ist schön und ja, es ist einzigartig, die Sterne, der Himmel, der selbe Mond, den die großen Frauen und Männer der Geschichte auch bewundert haben, das ist schon was, das ist schon erstaunlich. Aber du bist eben hier auf der Erde und das wird sich auch nicht ändern.
Aber wenn sich alles ändern würde, von einem Tag auf den anderen, dann wäre alles anders.
Deine Begleitung raucht, ist gut angetrunken, aber vielleicht bist du das ja auch, du bist dir nicht ganz sicher, sie schaut dich an, mit großen Augen, einem freundlichen Grinsen und du lächelst.
Ein Licht umhüllt euch und ihr werdet emporgehoben. Eine tiefe Stimme sagt:
„Ihr wurdet auserwählt. Das Schicksal der Menschheit liegt in euren Händen. Ich werde euch in eine andere Welt schicken, wo ihr zusammen gegen dunkle Mächte kämpfen werdet. Ihr könnt sie klar erkennen, sie tragen Hörner und lachen auf diabolische Weise. Ich werde euch mit erstaunlichen Kräften ausstatten, ihr werdet fliegen können und stark sein und…“
Irgendwo zerbricht eine Flasche, Menschen lachen, das Licht erlischt, die Stimme grummelt noch „Och, hmm, vielleicht auch nicht…“ und löst sich dann auf.
„Hallo.“ sagst du zu der Person, die vor dir steht.
„Hallo.“ sagt sie zurück und die Augen dieser anderen Person lächeln.
Die Person küsst dich und du kannst dir nicht helfen, du weißt nicht warum, aber eine Träne löst sich aus deinem Auge. Die Person küsst die Träne weg.
Ein seltsamer Moment, bevor du sie zu dir einlädst, sie wirkt verlegen, lächelt, lehnt dankend ab, aber gibt dir ihre Nummer, bevor sie in die Dunkelheit verschwindet.
Du verfluchst dich mal wieder und natürlich die Welt, denn die Welt eignet sich nun mal so hervorragend zum Verfluchen, verfluchst diese Träne, verfluchst den Regen, der jetzt wieder einsetzt. Ein bisschen früher und das Weinen des Himmels hätte dein eigenes ertränken können, aber nein; und ein bisschen verfluchst du auch die andere Person, die für einen Moment so getan hatte, als wäre sie keine fremde Person, obwohl sie es natürlich war.
Du bist müde, willst ins Bett, willst schlafen, dich den Träumen ergeben, die bereits knapp am Rande deines Sichtfelds in die Wirklichkeit dringen.
Aber etwas hält dich hier an diesem Ort. An diesem Leben. An dieser Welt. Was wäre, wenn?
Diese Frage. Wenn es die nicht gäbe.
Was wäre dann?
Sims Alabim; 2010-03-06
Verdientermaßen ist Guido Westerwelle gerade der Prügelknabe des politischen Kabaretts. Seine Harz IV- Tiraden reichen sogar dafür aus, dass eher moderate Gestalten der politischen Comedy sich zu neuen, menschelnden Höhen aufschwingen. Jetzt aber scheint der Wind sich gedreht zu haben: Beim Politikerderblecken am Nockherberg ist eine “Bruder Barnabas” genannte Kunstfigur in Deutschlands beliebtestes Fettnäpfchen getreten.
Bußprediger Lerchenberg hatte gehöhnt, Westerwelle versammle Hartz-IV-Empfänger “in den leeren, verblühten Landschaften zwischen Usedom und dem Riesengebirge, drumrum ein großer Zaun”. Über dem Eingangstor werde “in großen eisernen Lettern” stehen: “Leistung muss sich wieder lohnen.” Über dem Tor zum KZ Auschwitz hatte in eisernen Lettern gestanden: “Arbeit macht frei”.
So weit, so gut. Westerwelle ist über diesen Vergleich natürlich empört; der fällt für mich unter die Kategorie von Leuten, die laut in den Wald hineinröhren und dann das Echo nicht vertragen können. Dennoch ist seine Wut verständlich. Aus gutem Grund möchte niemand mit Nazis verglichen werden. Was mich aber an der ganzen Sache wieder aufregt, ist, wer sich noch alles über diesen Scherz aufregen muss:
Die Präsidentin des Zentralrats der Juden, Charlotte Knobloch, bezeichnete einen entsprechenden Vergleich in der Rede des Schauspielers Michael Lerchenberg am Donnerstag als “nicht hinnehmbar” und “Schande”.
Knobloch sagte, einen derartigen Ausrutscher unter der Gürtellinie habe sie bislang noch nicht erlebt. “Scherze, die das Leid der Opfer in den Konzentrationslagern verharmlosen oder gar der Lächerlichkeit preisgeben, sind eine Schande für die ansonsten gelungene Veranstaltung.”
Ich weiß gar nicht, wie man derartig dumme Äußerungen noch kommentieren soll, ohne wie der verzweifelte Oliver Kalkofe zu wirken, dem es in seiner Mattscheibe auch nur selten gelingt, die schiere Blödheit der von ihm gewählten Fernsehsendungen noch durch übertriebene Imitationen zu überbieten. Warum zum Teufel ist es eine Verharmlosung der NS-Verbrechen, wenn man eine Anspielung darauf benutzt, um einem Politiker in einem vollkommen anderen Zusammenhang Menschenverachtung vorzuwerfen? Benutzen Leute wie Frau Knobloch ihr Gehirn eigentlich auch zum Denken, oder haben sie es auf einen reinen “Nazi-Detektor” reduziert, der laut und schrill Alarm schlägt, wenn irgendwo in irgendeinem anderen Zusammenhang als Gedenkfeiern oder großem, deutschen Hakenkreuz-Kinodrama, bestimme Schlüsselworte fallen, ganz egal wie unangebracht und am Thema vorbei ihr Protest im Augenblick ist? Wie ernst nimmt der Zentralrat der Juden die vielbeschworenen Leiden der Opfer eigentlich wirklich, wenn er sie gnadenlos zu nichts anderem benutzt, als sich bei jeder sich bietenden Gelegenheit zu profilieren und die eigene Wichtigikeit zu unterstreichen?
Anderswo dasselbe: Ist an Fernsehredakteuren, die noch immer kategorisch behaupten, man dürfe über die düstere Vergangenheit Deutschlands keine Scherze machen, die gesamte Kulturelle Entwicklung der letzten 50 Jahre vorbeigegangen? Warum weigert man sich teilweise auch dort, anzuerkennen, was der Rest der Welt längst begriffen hat: Ausgemergelte Juden in gestreiften Anzügen, düstere SS-Männer in schwarzen Ledermänteln, die bei Nacht und Nebel an Verladebahnhöfen in schwarze Limousinen steigen, langgezogene Hakenkreuzbanner an alten Fassaden, Wehrmachtssoldaten mit knatternden Maschinengewehren, all das sind längst popkulturelle Ikonen. Ich rede hier nicht von den grandiosen humoristischen Bearbeitungen des Dritten Reiches, die Chaplin, Lubitsch, Brooks, in jüngerer Zeit aber auch Begnini oder Moers abgeliefert haben, ich rede von so etwas wie den “Sturmtruppen”-Comics aus Italien. Ich rede von den Schurken in Indiana-Jones Filmen, die immer für einen Lacher gut sind (“Nazis! I hate these guys!”), von der Eröffnungsszene in X-Men, von den Flashbacks in Shutter Island: Haben Spielberg, Singer und Scorsese nicht auch Verharmlosung des Holocaust betrieben, wenn sie seine Ikonographie ausnutzen, um Action- und Superheldenfilme zu drehen, die mit dem Thema an sich nichts zu tun haben? Betreibt die Werbeindustrie nicht eine Verharmlosung des Holocaust, wenn sie für Parfumwerbungen die Körperkult-Ästhetik von Leni Riefenstahl weiterbetreibt und damit einen Teil des kulturellen Erbes der Nazis ungebrochen aufrecht erhält?
Auch hier im Blog ist ja schon über die Angebrachtheit von Nazi-Vergleichen gestritten worden. Auch ich persönlich finde sie oft unelegant; die Lektüre vom Gotteswahn mit der Lektüre von Mein Kampf zu vergleichen, verharmlost aber nicht den Holocaust, sondern ist nur dazu geeignet, den Opponenten zu brüskieren. Und auch bei meinen geschätzten Freunden und Kollegen Mitautoren wirkt dieser Mechanismus ziemlich verlässlich: Zieht der Gegner die Nazi-Metapher aus dem Hut, weicht man sogleich auf Gegenattacken in expliziter Fäkalsprache aus oder droht mit der Verweigerung weiterer Gesprächsbereitschaft.
Offenbar ist der Nazi-Vergleich eine Rethorik-Keule, die ganz schön hart treffen kann, deshalb sollte ihr Einsatz gut überlegt sein – aber muss man jemandem, der sie verwendet, sofort vorwerfen, er würde das Leid der Holocaust-Opfer deswegen auf nichts anderes als eine solche Rethorik-Keule reduzieren? Gilt dieser Vorwurf dann auch für Josef Hader, der sich in seinem legendären Programm Privat darüber auskotzt, dass man in Europa vor lauter gebetsmühlenartigem Wiederholen der Phrase “Auschwitz darf nie wieder passieren” vollkommen übersieht, dass Völkermord in vielen Ländern der Erde an der Tagesordnung ist – und dass wir daran nicht unschuldig sind? Aber gegenwärtiger Genozid erhitzt die Gemüter scheinbar nicht so sehr, wie die Verharmlosung des vergangenen.
Wie aber sollen wir aus einer Vergangenheit wie dieser eine Lehre ziehen, wenn wir nicht auch zulassen, sie ins kollektive Bewußtsein und damit auch in die Popkultur oder unser Metaphernarsenal aufzunehmen? Wenn wir uns nicht auch erlauben, Vergleiche mit dieser Vergangenheit heranzuziehen, um früh genug neuen Anfängen entgegenzutreten? Eine mahnende Erinnerung an den Nationalsozialismus finde ich manchmal durchaus angebracht, z.B. angesichts der Tatsache, dass eine führende Partei mit Sprüchen wie “Leistung muss sich wieder lohnen” den Sozialstaat untergräbt, oder angesichts eines populäreren Wissenschaftlers, der anregt, darüber nachzudenken, warum man zwar Pferderassen auf bestimmte Merkmale hin züchte, aber davor zurückschrecke, dasselbe auch bei Menschen zu tun, um die Leistungsfähigkeit im Profisport zu steigern. Aber wer den Holocaust als Vergleich heranzieht, anstatt nur zum Selbstzweck darüber entsetzt zu sein, der macht offenbar nicht Gefahren in der Gegenwart deutlich, sondern er verhöhnt die armen Opfer…
Danke Hitler, dass du uns auch weiterhin das Leben schwer machst. Das Verbrechen an deiner Generation war Völkermord, verbrannte Erde, Elend, Massenhypnose und die Zerstörung einer Kulturnation; das an den folgenden Generationen jedoch ein kollektiver Dachschaden. Einerseits nervt man uns mit einen Zwang zur Verarbeitung, will es auf der anderen Seite aber nicht zulassen, wenn diese über ehrfürchtige Betroffenheitsgesten hinausgeht. Aber indem ich mich darüber beschwere, verharmlose ich vermutlich schon wieder den Holocaust.
Sims Alabim; 2010-02-23
Mein inoffizieller Beitrag zu Grotemsons Reihe “Was machen eigentlich die Mythen der Antike?”
Camus schrieb, wir müssten uns Sisyphos als einen glücklichen Menschen vorstellen.
Ich glaube, wir müssen uns Sisyphos als einen Entrepeneur vorstellen. Längst ist er durch seine Beschäftigung mit dem Stein zu einem großen Arbeitgeber geworden. Er lässt Kräne bauen und Rampen errichten und Flaschenzüge erfinden und Berghänge abtragen. Er lässt sich Erfolgsprognosen, Erosionsmodelle und Gravitationskoeffizienten in Form von Tabellen, Kurven und Diagrammen auf Flipcharts vorführen. Er stellt Manager ein, optimiert Arbeitsabläufe und verlangt von seinen Projektleitern Ergebnisse. Er hat ein einprägsames Logo und einen Internetauftritt. Alle 50 Höhenmeter feiert er einen Etappensieg. Im alten Tempel von Delphi kürt er den Mitarbeiter des Monats. Und wenn es einmal wieder bergab geht, lässt er sich vom Staat ein finanzielles Rettungspaket schnüren.
Ich glaube, so müssen wir uns heute Sisyphos vorstellen.
Malibu Aircraft; 2009-12-21

Image credit: SnowCrystals.com (via treehugger.com)
Wollte nur schonmal ein herzlich frohes Weihnachtsfest wünschen und gleichzeitig noch zwei, wie ich finde, wunderschöne Weihnachtslieder empfehlen: “White Wine In The Sun” von Tim Minchin und “The Atheist Christmas Carol” von Vienna Teng. Ich will hier nichts illegales verlinken, aber das findest du schon, du Röhre. (Mann, komm ich mir jetzt clever vor!)
Ahoi und lot’s of love,
Malibu
Sims Alabim; 2009-12-15
Aktuelle Schlagzeile bei Web.de: Tränen beim Abschied von Milchbauer Josef
Ich weiß, wer mit den News auf der Startseite von Web.de Probleme hat, der hat echte Luxusprobleme und sollte sich einen neuen Email-Anbieter suchen.
Trotzdem möchte ich kurz auf ein bizarres Phänomen hinweisen; nämlich darauf, dass Inhalt und Fortgang von Sendungen wie “Bauer sucht Frau” genauso behandelt werden wie tatsächliche Ereignisse in Politik und Gesellschaft.
Max Goldt hat ja schon gesagt (und ich stimme ihm zu), dass Sportergebnisse in Nachrichtensendungen nichts zu suchen hätten, denn sie hätten denselben Nachrichtenwert wie Treppenhausklatsch, aber das schießt doch jetzt den Vogel ab.
Sollen wir uns jetzt schon Sorgen um die konstruierte Trennungsunschärfe zwischen Fiktion und Wirklichkeit machen, oder erst, wenn die aktuellen Cliffhanger aus der Lindenstraße als Schlagzeilen in der Bildzeitung auftauchen?
Malibu Aircraft; 2009-10-24
Vor einiger Zeit habe ich hier in einem Anfall akuten Mitteilungsbedürfnisses meine Mail an Jürgen Boos, den Direktor der Frankfurter Buchmesse, gebloggt. Es ging um die Art wie mutige Menschenrechtler aus China kurzfristig, aufgrund von chinesischem Verlangem, von einem Vorab-Symposium zur Frankfurter Buchmesse ausgeladen wurden. Wegen öffentlichem Protest wurden sie dann wieder eingeladen. Die chinesische Delegation wurde darüber nicht informiert, worauf diese während der Ansprache der Menschenrechtler den Saal verlies. In der ersten Stellungsnahme von Boos klang es, als täten ihm die Delegierten mehr leid als Dai Qing und Bei Ling, was mich damals aufregte. Doch kurz darauf veröffenlichte Boos im Internet eine weitere Stellungsnahme in der er unter anderem schrieb:
Das offizielle China sagte uns in der Person des ehemaligen Botschafters Mei Zhaorong auf dem Symposium: “Wir sind nicht gekommen, um uns über Demokratie belehren zu lassen.” Demokratie und Meinungsfreiheit haben immer mit Reibung zu tun und der Eklat am Wochenende war nur der Anfang einer demokratischen Auseinandersetzung, die auf den Ehrengast China zukommt. Die Frankfurter Buchmesse bietet zwar keine Belehrung in Demokratie, aber sie ist gelebte Demokratie. Das sind die Spielregeln der Frankfurter Buchmesse.
Der Kompromiss unseres Projektleiters, mit den Autoren Dai Qing und Bei Ling zu sprechen und ihnen eine Alternative zum öffentlichen Auftritt auf dem Symposium nahe zu legen, war falsch. Dafür habe ich mich bei den Autoren und der Öffentlichkeit entschuldigt. Kompromisse zu Lasten der Meinungsfreiheit gibt es mit der Frankfurter Buchmesse nicht.
Auch ich bekam am 23.9. eine Antwort eines Stellvertreters von Boos, in der es unter anderem hieß:
Ich kann gut nachvollziehen, dass die Medienberichterstattung im Vorfeld der Frankfurter Buchmesse für Kritik und Fragen gesorgt hat.
[…]
Die Frankfurter Buchmesse bietet ein Podium für die gesamte Vielfalt und Bandbreite aller Stimmen zu dem diesjährigen Ehrengast China. Während der Buchmesse werden sich rund 500 Veranstaltungen mit China und seiner Literatur beschäftigen. In etwa zu gleichen Teilen werden sowohl Vertreter der Volksrepublik China als auch Regimekritiker und in China und anderen Ländern lebende Minderheiten teilnehmen. […]
Seien Sie versichert: Die Frankfurter Buchmesse ist und bleibt ein Ort des freien Wortes und des freien Gedanken- und Meinungsaustausches. Sie ist dabei noch nie den Weg des geringsten Widerstandes gegangen und wird es auch in diesem Jahr nicht tun.[…]
All das hört sich gut und einigermaßen einsichtig an. Und ohne Frage ist es nicht einfach, so ein Event zu veranstalten, schon gar nicht wenn man sich “Dialog” auf die Fahne geschrieben hat.
Letzten Sonntag wurden nun Bei Ling und Dai Qing wieder kurzfristig von einer Abschlussveranstaltung ausgeladen. “Laut Dai Qing habe Ripken [der China-Projektleiter] ihr eine Viertelstunde vor Beginn der Veranstaltung gesagt, das Auswärtige Amt als Mitveranstalter des Empfangs wünsche ihren Auftritt nicht.” (Focus online) Der Projektleiter wurde inzwischen gefeuert.
Die ganze Farce lässt einen fragen, was mit “Dialog” eigentlich gemeint ist. In wie weit kann man mit Repräsentanten einer Diktatur in Dialog treten, die nicht nur im eigenen Land für Ungerechtigkeit und Grausamkeit sorgt, sondern auch blind andere Horror-Regimes, wie Iran, Sudan oder Nordkorea, mit Waffen versorgt, und gleichzeitig regelmäßig verhindert, dass die UN bei Verbrechen dieser Länder einschreitet.
Auf der anderen Seite gibt es die, welche sich so wahnsinnig gerecht vorkommen, indem sie von China am liebsten überhaupt nichts hören wollen. Nicht mit ihnen verhandeln, nichts hören wollen von der faszinierenden Kultur oder Geschichte dieses Landes und am besten nicht nur nicht mit China-Offiziellen, sondern mit überhaupt keinem Chinesen reden. Und wenn man mal mit einem redet, dann drückt man ihm am besten gleich den Finger auf die Brust: “Na, warum macht ihr denn da drüben nichts gegen eure miese Regierung? Macht doch mal Aufstand!” Genau die gleichen Leute, die sich dort wahrscheinlich ausschließlich auf ihre Karriere konzentrieren würden.
Aber warum auch nicht, wenn einem bei, wohlgemerkt offenem, Protest ein völlig ungewisses Schicksal droht? Ich weiß auch nicht, was ich machen würde. Wahrscheinlich würde ich mich gar nichts trauen. Aber gerade deshalb muss man Menschen wie Bei Ling und Dai Qing verdammt nochmal auf Händen tragen, wenn sie hierher kommen. Und sie nicht mit genau dem Gefühl gehen lassen, mit dem sie jetzt wahrscheinlich gegangen sind.
Cabuflé; 2009-10-23
In einem zweiteiligen Artikel auf Telepolis hat Hans Schmid sich recht ausführlich und angemessen polemisch mit der fragwürdigen Praxis der Bundesprüfstelle für Jugendgefährdende Medien auseinandergesetzt. Unbedingt lesenswert.
Teil 1: Kasperltheater, Folterpornos und Zensoren – Die Nouvelle Vague des Horrorfilms in den Krallen deutscher Jugendschützer
(…) An den Indizierungsentscheidungen fällt mir die Sicherheit des Urteils auf. Diskussionsbedarf bestand offenbar nur hinsichtlich der Frage, ob ein Film in Liste A oder Liste B eingetragen werden soll und ob Frontière(s) zum Rassenhass anreizen und das NS-Regime verherrlichen könnte, weil das sabbernde Familienoberhaupt der Kannibalen früher bei der SS war (eher nicht, befand das Gremium). Mir ist diese Meinungsstärke leider nicht gegeben. Ich bin mir nicht sicher, ob ich die genannten Filme gut oder schlecht finde und ob ich sie empfehlen würde, wenn ich das dürfte. Bei mir ist die Meinungsbildung ein Prozess. Als Jugendschützer wäre ich ein Versager, denn von vornherein weiß ich so gut wie gar nichts (beim 3er-Gremium ist das ganz anders). (…)
Teil 2: Böse Filme zwischen Kunstfreiheit und Jugendschutz – Wie eine Bundesoberbehörde die Vorgaben des höchsten deutschen Gerichts befolgt
(…) Die BPjM ist doch noch fündig geworden. Nicht bei der Wissenschaft oder im Feuilleton von Zeitungen und Zeitschriften, sondern im Kommentarteil von Internet-Versandhändlern. Eine seiner 12 Textseiten zu A l’intèrieur füllt das 3er-Gremium mit den “Filmrezensionen” von “blade41”, “Mr. Vincent Vega” und “McHolsten”. Mit Verlaub: Das ist Realsatire. Solche Kommentare von Internet-Usern sind völlig legitime Meinungsäußerungen, aber Filmrezensionen sind es in aller Regel nicht. Ich will überhaupt nicht ausschließen, dass Mr. Vincent Vega & Co. eine solche Rezension schreiben könnten (dazu gehört, dass man nicht nur eine Meinung hat, sondern diese auch begründet), aber sie haben es nicht getan, weil es nicht verlangt war. Wenn die BPjM so tut, als erfasse sie “Echo und Wertschätzung in Kritik und Wissenschaft”, indem sie ein paar Sätze von McHolsten zitiert, ist das eine Travestie. (…)
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