Vielleicht sollte sich die Kultur also ein Beispiel nehmen an Opel und Co. und ganz selbstverständlich Rechte in der Politik einfordern, statt im vorauseilenden Gehorsam zu fürchten, dass die Etats schrumpfen.
Als ob nicht im Gegenteil die Warenwirtschaft diese schlechte Angewohnheit – ähnlich wie das Ausbeuten ewiger Praktikanten – vielmehr von euch abgeschaut haben könnte.
Als ob nicht seit Jahrzehnten ein ewiges Jammern gleich Muezzinsrufen aus den Elfenbeintürmen schallte, der Staat möge doch bitte, nein er müsse, sei moralisch verpflichtet, die Kultur zu fördern, ergo eure Mäuler zu stopfen, eure Leiber zu kleiden und eure freundlichen hellen Altbauwohnungen in ruhiger Lage zu heizen, weil ihr selbst euch dessen außer Stande seht.
Da unsere Volksvertreter nun so nebenbei ins Grundgesetz schrieben, sie würden dann in zwölf Jahren mal aufhören mit dem Schuldenmachen, setzt ihr noch einen drauf, und statt die Obrigkeit deswegen zu verhöhnen, wie es den Dichtern und Gauklern zu Gesicht stünde, tut ihr mit ernster Miene so als habe dieses Musterbeispiel an politischer Effekthascherei tatsächlich irgend etwas zu bedeuten und schreit mit der euch eigenen Versorgungsmentalität noch etwas lauter als sonst.
Im Gestus des satten Arschlochs westlich-mittelständischer Provenienz, dem der Strom aus der Steckdose kommt und das Essen vom Supermarkt meint ihr, der Staat solle um Himmels Willen weiter misswirtschaften, bevor ihr nur eine Probebühne schließen müsstet, nur ein Symposium weniger abhalten, oder jenen bürokratischen Wasserkopf trockenlegen, der ohnehin mehr als die Hälfte aller Gelder verschlingt, ehe sie bei den Künstlern ankommen.
Und einmal mehr sollt ihr euch deshalb von mir und Meinesgleichen fragen lassen:
Ist es euch jemals in den Sinn gekommen, dass der Konsum von Kulturgütern irgendeiner Art zwar ein Menschenrecht sein mag (und der HartzIV-Satz unter anderem deshalb menschenunwürdig ist, weil er Empfänger eben davon ausschließt), das Schaffen von Kulturgütern zum Broterwerb jedoch ein Luxus?
Dass Kunst, die zu anderem gut ist als nur den Pöbel zu belustigen (und den Pöbel Belustigen ist keine Schande – es ist ehrliche harte Arbeit, für die der Pöbel letztlich immer einen angemessenen Preis zu zahlen bereit sein wird), dem Künstler letztlich Lohn genug zu sein hat, ein Ding von Leidenschaft und Ehre und nicht ein Dienst, den man irgendjemandem – und zuallerletzt dem Staat – erweist?
Dass Nahrung, Kleidung und ein Dach über dem Kopf also ein wünschenswerter Nebeneffekt solcher Kunst sein mögen, aber niemals deren eigentliches Ziel und noch weniger deren Bedingung?
Dass jeder Künstler, der sich von öffentlichen Geldern und somit letztlich dem Wohlwollen der Herrschenden abhängig macht, freiwillig sein edelstes Recht, namentlich die Freiheit von staatlicher Einflussnahme aufgibt?
Eure geistige Armut kotzt mich an. Ihr habt nichts begriffen.
Wer sich zu fein ist, im Zweifel entweder den Pöbel zu belustigen oder kellnern zu gehen, hätte mal lieber was Anständiges lernen sollen!
Und auch zu dem angeblich schlechtesten lebenden Regisseur könnten hier mal ein paar Worte fallen:
Bisher betrachtete ich Uwe Boll mit, sagen wir: wohlwollender Gleichgültigkeit. Die wenigen Filme von ihm, die ich bisher gesehen habe sind zwar alles andere als gut aber auch nicht außergewöhnlich schlecht. Zeitgenössische B-Movies eben, nicht völlig ohne Charme. Bolls negative Reputation scheint vor allem daher zu rühren, dass er sich durch seine Spezialisierung auf billige und schnell heruntergekurbelte Videospieladaptionen mit einer leidenschaftlichen, gut vernetzten und ergo schlagkräftigen Community angelegt hat: Den Nerds. Vielleicht die unterschätzteste Lobby überhaupt.
Im Creative Screenwriter Interview jedenfalls kommt er als sympathischer Freak rüber, dem ich mich auf Anhieb deutlich verbundener fühle als dem Großteil der angesehenen Blockbuster- und/oder Arthouseregisseure unserer Generation.
Der 9/11-Klamauk Postal und Bolls frühe deutsche Produktionen Amok und German Fried Movie stehen ab heute ganz weit oben auf meiner Liste.
Ich wüsste da spontan jetzt auch niemanden. Aber ist das nicht schade? Hätte der Fliesentisch nicht besseres verdient, als die Wohnstuben junger Prekarier im Privatfernsehen zu zieren?
Es mag daran liegen, dass ich irgendwo in meinem Hinterkopf die nebulöse Erinnerung ausgrub an Cabuflés nicht mal zehnjährige Kinderfinger, die einst – wann und wo kann ich nicht sagen – Â fasziniert die Fuge zwischen zwei Fliesen eines Fliesentisches erkundeten (populärpsychologische Sticheleien werden in den Kommentaren entgegen genommen).
Vielleicht wirkt die Verwendung von Fliesen als Möbeloberfläche im Zeitalter von Furnier und Pressspan auch einfach ehrlicher als ein beliebiger leidlich an Holzoptik gemahnender Kunststoff.
Wie auch immer – fest steht jedenfalls: Ich will einen Fliesentisch! Unbedingt! Ganz dringend! Jetzt sofort! Hat irgendjemand einen über oder kennt jemanden?
Stefan Niggemeier kann mir offenbar schon mal nicht weiterhelfen…
Es war in der Diskussion faszinierend zu sehen, wie die Kinderschützer mit großer Naivität glaubten, dass eine Sendung, die RTL eine „Dokumentation†nennt, das tatsächliche Geschehen dokumentiert. Und wie die Fernsehleute mit ebenso großer Betriebsblindheit nicht glauben konnten, dass jemand annehmen könnte, dass das, was RTL in so einer Show zeigt, eine größtmögliche Annäherung an die Wirklichkeit wäre — und nicht vor allem den üblichen Inszenierungs-Regeln folgen würde.
Normalerweise finde ich Besprechungen einzelner Politikerreden eher ermüdend. Aber wenn eine Rede vom amerikanischen Präsidenten als Ansprache an die „muslimische Welt“, zwei zusammen völlig bedeutungslose Worte, in der Hauptstadt eines autoritären, pseudodemokratischen Polizeistaates, in dem die Hauptgesetzesquelle die Scharia ist, angekündigt wird, dann ist es vielleicht doch wert, ein bisschen genauer zu schauen. Im Prinzip ist an der Rede nichts falsch, außer dem, was man auch vorher schon vermuten konnte. Und es nichts dran zu rütteln, dass Obama ein guter und angenehmer Sprecher ist.
Das Hauptproblem ist, dass gleichzeitig Klischees und Vereinfachungen bekämpft werden sollen, während sie gebaut werden. Es gibt eine muslimische Welt noch weniger als es eine christliche Welt gibt. Schiiten, Sunniten, Wahhabiten, Sufiten, Aleviten, usw. bekämpfen sich nicht nur gegenseitig, sondern auch untereinander. Wenn man den Irak beispielweise nach Religionsrichtungen aufteilen würde, hätte man bestenfalls lauter Ministaaten von der Größe kleiner Städte.
Obama weiß das natürlich, deswegen ist es ja auch nur eine symbolische Rede und letztendlich nicht mehr als eine Mischung aus allgemeinen Schmeichelein und ein paar Dingen, die zwar nicht neu sind, aber auch nicht zu wenig gesagt werden können.
Aber ob es gut ist, ein Bild eines nicht-existenten einheitlichen Islam zu zeichnen und dabei Kultur mit Religion quasi gleichzusetzen, während demokratische und säkulare Werte implizit als „westlich“ gebrandmarkt werden, wage ich zu bezweifeln.
In Kurzform: Zu wenig Geld von Anfang an – kranker Hauptdarsteller – Sandsturm am Set – Versicherungsprobleme – Abbruch nach gut einer Woche Dreh.
Es ist nunmehr offiziell, dass die renommierte Independentklitsche Recorded Picture Company, die auch Gilliams “Tideland” produzierte, die Vorproduktion für “The Man who killed Don Quixote” anlaufen lässt.
Irgendwie bin ich in einer schizophrenen Situation: einerseits möchte ich selbst mit der Schaffung von Kulturgut (Filmen, Büchern oder Comics) mein Geld verdienen, andererseits beteilige ich mich mit diesem Blog hier aktiv an einer Entwicklung, die die Aussicht auf ein solides Einkommen in dieser Branche immer zweifelhafter macht. Einerseits bin ich der Meinung, dass in einer idealen Gesellschaft allen Menschen alle Kulturgüter kostenlos zur Verfügung stehen sollten – andererseits sehe ich moralisch keinen Unterschied, ob man einen Film im Netz herunterlädt oder die DVD im Saturn unter der Jacke an der Kasse vorbeischmuggelt. Einerseits liebe ich das Internet für sein großes anarchistisches Potential, andererseits kann ich mich einfach nicht dagegen wehren, dass das Selbstverständnis, dass die Betreiber von Pirate Bay an den Tag legen, mich zum Kotzen bringt. Ich muss es einfach sagen: Ein breites Portal für das Herunterladen von Musik, Filmen und Computerprogrammen anzubieten, hat nichts mit dem Kampf für die Freiheit von Kunst und Kultur zu tun, sondern ist organisiertes Verbrechen. Nicht nur, weil es einzelnen Menschen die Möglichkeiten an die Hand gibt, eine Straftat zu begehen, sondern vor allem, weil es eine Haltung zementiert, die der Kunst weit mehr Schaden als Nutzen bringt: Während sich in allen Bereichen des Lebens die Menschen damit auseinandersetzen müssen, dass man für jeden Furz zu bezahlen hat, betrachtet man kulturelle Gegenstände als Inhalte eines freien Selbstbedienungsladens und ignoriert vollkommen, dass es auch Menschen gibt, die davon leben müssen.
Ich, dem die Idee des bedingungslosen Grundeinkommens noch längst nicht radikal genug ist, bin der erste, der bereit dazu ist, gegen Kapitalismus und Monopolismus zu Felde zu ziehen. Der erste, der bereit ist, sich hinzustellen, und zu sagen: Das Recht eines Menschen, an sämtlichen Erzeugnissen der Zivilisation teilzuhaben, sollte völlig unabhängig sein von der Arbeit, die dieser Mensch innerhalb dieser Zivilisation ausführt. Ich glaube tatsächlich daran, dass das Grundprinzip von Internetportalen wie Wikipedia, in der richtigen Weise weitergedacht, der einzige Ausweg aus der Misere ist, in die die Finanzwelt uns hineingeritten hat.
Im Internet besteht, zumindest theoretisch, die Möglichkeit, eine Art freie und unkapitalistische Gesellschaft zu erschaffen. Wikipedia beispielsweise befreit uns von der Monopol- und Autoritätsstellung des Großen Brockhaus, und ermöglicht ein “Wissens-Sharing”, zu dem jeder Mensch seinen Teil beitragen, und (noch wichtiger) auch davon profitieren kann, ohne zunächst selbst einen Beitrag ableisten zu müssen. Die administrativen Kräfte sind wahrhaftig auf ihre administrativen Funktionen reduziert, es gibt (zumindest, wenn man Wikipedia als geschlossenes System betrachtet) keinerlei Priviliegien und Exklusivitäten, die zu Machtmissbrauch anregen. Entstanden ist dabei eine für jedermann zugängliche Wissensquelle, die meiner Erfahrung nach erheblich zuverlässiger ist, als etwa DER SPIEGEL. Da mögen Startschwierigkeiten und Kinderkrankheiten drin stecken, aber das Prinzip des offenenen Forums funktioniert im Netz doch einigermaßen gut. Wer einen Blog betreibt, kann seine Meinung unzensiert, unredigiert, unangepasst und unverfälscht an alle weitertragen, die bereit sind, sich darauf einzulassen. Das System legt mir als Schreiber keinen Maulkorb an und zwingt Euch als Leser keinen Einheitsbrei auf: Wem meine Meinung nicht behagt, kann mit ein paar Klicks die genau entgegengesetzte finden – und er muss nichts dafür bezahlen.
Ich verdiene allerdings auch nichts dabei. Muss ich ja auch nicht. Ich mache das ja freiwillig. Mir geht es ja um die Sache. Oder um den Spaß. Und so lange ich die Freizeit habe, in der ich mir das leisten kann, profitiert jeder von der Situation. Der Ärger fängt an dem Tag an, an dem ich mit meiner Schreibe Geld verdienen muss. Und dann feststelle, dass es zwar für mein Ego ungeheuer toll ist, wenn die Leute meine Sachen gut finden, ich mir aber im wahrsten Sinne des Wortes davon nichts kaufen kann. Weil meine Leser sich daran gewöhnt haben, für meinen Blog nichts zu bezahlen, meine Bücher kostenlos auf ihr E-Book zu laden, meine Lieder von Freunden auf dem USB-Stick rüber zu ziehen, meine Filme auf YouTube zu sehen oder sich bei Pirate Bay runterzuladen, und meine Comics gleich mit. Vorausgesetzt natürlich, diese Filme werden überhaupt gedreht, weil die Absatzzahlen von Kinokarten und DVD-Verkäufen so rapide gesunken sind, dass die Industrie das zur Herstellung eines Films leider in absurder Höhe nötige Geld lieber in eine neue Klamotte von Mario Barth steckt, als in die Gehversuche eines Jungregisseurs. Die wenigen, die dumm genug sind, einen Diebstahl auch dann für einen Diebstahl zu halten, wenn das Diebesgut nur aus Daten besteht, und sich tapfer meine DVDs kaufen, werden dafür mit nicht wegschaltbaren, prätentiösen Spots genervt, die ihnen jenes schlechte Gewissen einzureden versuchen, das diejenigen, die eigentlich gemeint sind, schon lange nicht mehr haben.
Dass das Internet uns mit der Idee vertraut macht, dass alles darin kostenlos zu haben ist, hat leider zu einer erheblichen Schieflage geführt, was die schlichte Akzeptanz der Tatsache angeht, dass diejenigen, die den Content liefern, dafür auch gearbeitet haben. Ein gesellschaftlich relevanter Ansatz muss mit Geben und Nehmen zu tun haben, doch das Nehmen scheint sich im Netz erheblich schneller durchzusetzen, als das Geben. Man findet nichts dabei, Musikbibliotheken auf iTunes zu haben, deren Komplettspielzeit länger ist als die eigene Lebenserwartung, und für die man keinen Schnatz bezahlt hat, weil “Stars wie Micheal Jackson eh so reich sind, die merken das doch gar nicht.” Nein, die Micheals dieser Welt, ob sie nun Jackson oder Bay mit Nachnamen heißen, merken das tatsächlich nicht. Aber ich und 90 Prozent meiner Freunde, die mit mir das Studium an einer Filmhochschule begonnen haben, die werden das merken. Weil sie nämlich ihr Geld als Schnittassistenten bei Bauer sucht Schwein verdienen müssen! Weil die wenigen, die noch das Glück haben werden, einen Film finanziert zu bekommen, sich für einen Ausschnitt aus einem Beatles-Song, egal welche künstlerische Wirkung sie damit erzielen könnten, dumm und dämlich bezahlen müssten, während sich jeder Depp den Song im Netzt für Umme runterlädt. Denn die Copyright-Inhaber wuchern natürlich dort, wo sie es noch können: Bei anderen Künstlern, die ein Stück nicht auf ihren mp3-Player laden, sondern als Baustein für ein weiteres Werk verwenden und damit letztlich den Kulturschatz bereichern möchten.
Natürlich, so lange ich die Zeit habe, unbezahlt seitenlang über diese Misere zu jammern, hat mich diese Misere eigentlich ja noch nicht so fest im Griff, dass ich zu Jammern wirklich Grund hätte. Natürlich ist Videopiraterie nur einer von unendlich vielen Gründen, die einem das Leben als Filmemacher schwer machen. Natürlich wird der Schaden, den sie anrichtet, hochgespielt und überbewertet. Natürlich, auch ich habe früher Filme im Fernsehen auf VHS aufgenommen, mir CDs von Freunden auf Kassette überspielt, natürlich sind auch auf meiner Festplatte Musikordner, die ich mir von Freunden rübergezogen habe. Und natürlich ist einem Künstler, der seine Berufung erst nimmt, die Tatsache, dass viele Leute seine Botschaft vernehmen wichtiger, als die Tatsache, dass viele Leute für seine Botschaft bezahlt haben.
Das ändert aber nichts daran, dass 99 Prozent der User von Pirate Bay keine Idealisten sind, die an einer neuen, freien Gesellschaft bauen, sondern Schwaben im Geiste, die einfach keinen Bock haben, für etwas zu bezahlen, was man auch umsonst bekommen kann. Leute, die weder die Traute noch den Ansporn, noch die Ehrlichkeit sich selbst gegenüber hätten, jeden Tag auf dem Heimweg im Müller Markt eine DVD zu klauen, es aber geil finden, Star Trek schon zwei Wochen vor Kinostart aus dem Netz gesaugt zu haben. Das ist Egoismus, nichts anderes. Mit einer MiniDV Kamera in eine Sneak Preview zu gehen, den Film aufzunehmen und ihn ins Netz zu stellen, ist keine Anarchie sondern Vandalismus.
Es sind keine beruflichen Existenzängste, die mich so sauer machen, sondern die Tatsache, dass hier versucht wird, vollkommen eigennützigem Verhalten einen idealistischen Anstrich zu verpassen. Wer für freien Austausch von Gütern ist, der muss für den freien Austausch von allen Gütern sein, und nicht nur von denen, die sich digitalisieren lassen. Ansonsten sollte er zumindest die Eier haben, sich dazu zu bekennen, dass er zwar nicht mehr bei Saturn einkauft, den dortigen Werbeslogan aber verinnerlicht hat.
Ich wäre jedenfalls sofort bereit dazu, sämtliche Werke, die ich hoffentlich in der Zukunft noch irgendwie zustande bringe, sofort nach ihrer Fertigsstellung allen Menschen im Netz kostenlos zur Verfügung zu stellen. So lange die User der Filesharing-Plattformen mich dann auch umsonst mit Essen versorgen, mir die Haare schneiden und die Zähne richten, mich durch die Gegend chauffieren, mir die abgerissenen Knöpfe wieder annähen, die Fußreflexzonen massieren und meine Wohnung mit Heizung, Strom und Wasser versorgen.
Heumann hatte Geburtstag, und er würde die Doors auflegen.
Weitere Gedanken hatte er sich über den Verlauf des Tages nicht gemacht, wurde ihm bewusst, als nach und nach die ersten Gäste erschienen. Er hatte im Garten seiner Eltern ein Partyzelt aufstellen lassen, es war mit einer reichhaltigen Kuchenplatte bestückt, später am Abend würde es Grillware geben, Musik natürlich und Tanz und reichlich zu trinken, aber er hatte sich nicht um eine nähere Auswahl der Musik gekümmert, es war ihm egal, früher oder später würde ein paar seiner Freunde, wie sie es immer taten, dieses Amt mehr oder weniger an sich reißen, ihren iPod mit der Anlage verbinden und das laufen lassen, was ihrer Meinung nach die beste Playlist für den Abend war. Heumann kümmerte das nicht, er war sogar zufrieden, dass ihm jemand diese Aufgabe abnahm, so lange er an einem bestimmten Punkt des Abends dazu kommen würde, die Doors aufzulegen. „The End“.
Die ersten Gäste waren die Paare mit Kindern. Für sie war es natürlich bequemer, am Nachmittag zu kommen. Heumann hatte vollstes Verständnis dafür. Die Kinder würden schreiend und tobend durch den Garten rennen, mindestens zwei davon würden in eine handfeste Auseinandersetzung geraten, die dazugehörigen Eltern würden, weil sie einander gut verstanden, nicht mehr unternehmen als einen halbherzigen Versuch, den Streit zu schlichten. Die Jüngsten würden in ihren Kinderwagen schlummern, aufwachen, ein hustendes, quäkendes Baby-Heulen von sich geben und von ihren Müttern in einer stillen Ecke des Hauses oder des Gartens, zum Beispiel hinten bei der alten Kinderschaukel, die Brust bekommen. Heumann ertappt sich dabei, wie er einer alten Schulfreundin, die soeben einen ikeagrünen Kinderwagen vor sich herschiebend das Grundstück betreten hat, eine Sekunde zu lange auf die voluminöse Brust starrt.
Heumann ist derzeit Single. Heumann lebt derzeit nicht in einer Beziehung. Heumann hat seine Wohnung derzeit für sich allein. Heumann wird derzeit per Hand betrieben. Heumann wird 30, und wenn er sieht, wie all seine Schulkameraden ihr Privatleben zur Kleinfamilie ausgebaut haben, spürt er einen Stachel. Dieser Stachel wird nicht verschwinden, wenn die Elternpaare nach dem Genuss mehrere Portionen Grillfleisch sehr schnell erklären werden, dass die Kleinen nun ins Bett müssten, und sie selbst seien es ja nun leider auch nicht mehr gewohnt, und nach 22 Uhr fallen ihnen gerne schon Mal die Augen zu. Heumann wird sich dann einreden, wie frei er doch ist, dass ihm die Augen noch nicht zufallen, dass er noch bis in die Puppen tanzen wird auf seinem Geburtstag, mit all seinen Freunden. Heumann fragt sich, ob er warten soll, bis all die Eltern mit ihren Kindern fort sind, ehe er die Doors auflegt.
This is the end…
Heumann macht sich nichts vor. Er weiß, dass auch die kinderlosen Gäste gegen Mitternacht verschwinden werden. Die meisten von ihnen haben feste Freundinnen, was er ihnen neidet, oder feste Freunde, die er beneidet, und die werden entweder mit dabei sein und langsam an der Seite ihres Lebensabschnittsgefährten müde und quengelig werden, nicht anders als die Kinder, oder sie werden zuhause warten und gesagt haben „wenn du vor ein Uhr heimkommst bin ich noch wach”, und seine Freunde werden diese Zeichen zu deuten gewusst haben, und weil das Grundstück ja doch ein wenig außerhalb liegt und der Weg nach Hause weit ist, werden die Meisten dem subtil genervten Blick ihrer Partner irgendwann nachgeben und „es dann Mal packen.” Übrig bleiben werden ein paar Hartgesottene, die Verwandtschaft, die sowieso hier übernachtet, und Andrea von der Arbeit, mit der Heumann nichts anfangen kann.
Es ist ein herrlicher Tag, die Sonne scheint, alle Gäste, die sich gerade erst kennengelernt oder einander schon lange nicht mehr gesehen haben, können Gesprächslücken mit der Feststellung füllen, dass man schon großes Glück habe mit dem Wetter. Die Eltern müssen ihre Kinder ermahnen, die Kuchenstücke nicht einfach in sich hinein zu schaufeln, sondern Obacht zu geben wegen der Wespen. Sie beschreiben ihren Sprösslingen den qualvollen Tod, den man erleidet, wenn einem eine Wespe von innen in den Hals gestochen hat. Der ikeagrüne Kinderwagen steht leer, und Heumann muss seinen Drang überwinden, Ausschau nach der Besitzerin zu halten. Im Geiste sieht er sie hinten im Garten auf der Kinderschaukel sitzen, den tiefen Ausschnitt des Sommerkleides so weit nach unten gezogen, dass sie ihre mächtige, runde Brust herauspressen kann, um den kleinen Vampir daran nuckeln zu lassen.
Das Zelt füllt sich mit Gästen. Es ist etwas zu heiß darin und die weißen Seitenwände des Zeltes riechen nach Plastikplane. Später am Abend wird es kühler werden und dann wird man froh sein über das Zelt. Heumann stellt einander die Gäste vor. Alte Schulkameraden, entfernte Verwandte, Urlaubsbekanntschaften, Arbeitskollegen, Freunde von Früher, ein paar Verflossene, und ein paar, die es nicht einmal zu Verflossenen gebracht haben (was nicht daran liegt, dass Heumann es nicht versucht hätte, oh nein), alle sind sie gekommen. Sogar sein alter Mathematiklehrer ist da. Und fast seine ganze Abiturklasse. Das Abitur jährt sich zum zehnten Mal in diesem Sommer, und da spart man sich die mühevolle Organisation eines Klassentreffens, wenn einfach alle zu Heumanns Geburtstag kommen. Die meisten von ihnen werden dieses Jahr ebenfalls 30 oder sind es schon geworden. Von nicht einmal einem Viertel hat Heumann eine Einladung bekommen. Ihn wundert das nicht. Die anderen haben vermutlich auch nicht so groß gefeiert, denkt er sich.
Ein Windhauch fegt durch das Zelt und lässt einen Spätsommergeruch hindurchwehen, der eigentlich nicht hierher gehört. Erst sehr viel später an diesem ereignisreichen Abend wird Heumann auffallen, dass es nach gemähtem Gras gerochen hat, das zum Trocknen auf den Feldern liegt, nach dem Staub abgeernteter Getreidefelder und dem gesunden Schweiß eines harten Arbeitstages der in den roten Strahlen eines brennenden Sonnenuntergangs trocknet. Dabei ist es gerade erst Juni. Heumann blickt unwillkürlich auf und sieht einen Cowboy im Eingang des Zeltes stehen. Der hereinwehende Staub reduziert seine Gestalt auf eine graue Silhouette im Gegenlicht. Heumann sieht den breitkrempigen Hut, den Umriss des langen Staubmantels, möglicherweise sogar die schweren Revolver an den Hüften des Mannes und wundert sich nicht einmal. Eine Schulfreundin mit Glutamatunverträglichkeit und Lactoseallergie hat ihren eigenen Kuchen mitgebracht, und fragt Heumann, ob er ein Stück probieren möchte. Bis Heumann Nein gesagt hat, ist der Revolvermann aus seinem Bewusstsein verschwunden. Weiterlesen…
…damit Kollege Cabuflé auch weiß, dass ich einen guten Grund hatte, am Freitag kein Komparse mehr zu sein.
Freitag, 13 Uhr: Die mobilen Würstchenverkäufer am Alex verkünden wie moderne Muezzins die Mittagszeit. Ich habe mir endlich ein Ticket für den Fernsehturm geleistet, als ich erfahre, dass für mich eine Karte für die Lola-Verleihung herausspringen könnte. Weil ich mein Turmticket schon bezahlt habe, treffe ich das Kartenarrangement in der Warteschlange vor dem Aufzug und komme mir wie der letzte Schnösel dabei vor.
Gute fünf Stunden später: Platz nehmen in Block C und der Dinge harren, die da kommen.
Zunächst der interne Teil für das anwesende Publikum. Die Akademie verteidigt ihr Auswahlverfahren. Barbara Schöneberger erklärt den potentiellen Preisträgern, wie sie sich auf der Bühne verhalten sollen, und versprüht dabei Esprit und gute Laune.
Dann beginnt die Fernsehaufzeichnung und Barbara Schöneberger ersetzt Esprit und Frische gegen Texte vom Teleprompter.
Der Abend beginnt mit dem Höhepunkt: Loriot wird für sein Lebenswerk geehrt. Eines muss man Michael “Bully” Herbig lassen: Seine Laudatio ist so lahm und unlustig, dass einem erst richtig schmerzlich bewußt wird, wie sehr unserem Land heute solch eine Ikone des Humors fehlt. Der Meister betritt, am Stock gehend, die Bühne. Minutenlange Standing Ovations für einen Mann, dessen Lebenswerk ich fast auswendig aufsagen kann, und ich mittendrin. Es gibt einen Gott!
Danach: Applaus für die Moderation. Applaus für die Trailer. Applaus für die Filmausschnitte. Applaus für die Laudatoren. Applaus für die Laudatio. Applaus für die Nominierten. Applaus für den Gewinner. Applaus für die Dankesrede des Gewinners. Applaus für den Übergang zum nächsten Programmpunkt. Mit tun die Hände weh. Das ist, was wir sind: Klatschvieh, damit die Zuschauer an den Endgeräten das Gefühl bekommen, einer unterhaltsamen Veranstaltung beizuwohnen.
Es geht auch anders: Wo immer meine persönlichen Hassfilme, Krabbat und Der Baader-Meinhoff-Komplex nominiert sind, verschränke ich demonstrativ die Arme vor der Brust. Es ist ein kleiner Triumph, aber der einzige, den ich heute Abend selbst erringen kann. Die beiden Filme gewinnen keine Preise. Ich bin zufrieden.
Der Triumph eines anderen macht den Abend komplett: Andreas Dresen bekommt den Regiepreis für Wolke 9. Es gibt nicht nur einen Gott, es gibt auch Gerechtigkeit.
Diese fordert auch ein Contergan-Geschädigter Dokumentarfilmregisseur in Form von Reparationszahlungen von denen, die sich eine goldene Nase damit verdient haben, Menschen zu Krüppeln zu machen. Ein kurzer, beinahe schmerzhafter Moment simpler, glasklarer Emotion.
Große Enttäuschung auf der Party: Schönebergers Witze über das in diesem Jahr ausgesparte Buffet waren keine. Für jemanden, der unter anderem hier ist, um sich auf Steuerzahlerkosten durchzufressen, ein herber Schlag. Tabletts mit Spatzenportionen, später mit heißumkämpfter Currywurst gehen herum. Mühsam ernähren sich die Eichhörnchen.
Dafür ordentlich Gratispröbchen abstauben: Edelschokolade und Zigarren. Warum hat mein Anzug so wenig Taschen?
Der DJ arbeitet sich an Partyhitlisten ab. Mehrere Generationen wollen an ihre Abifete erinnert werden. Keine leichte Aufgabe.
Ob man uns ansehen kann, dass wir immer noch nicht erwachsen genug sind, um das Promispotting sein zu lassen? Ob all die anderen Nichtpromis es sind? Ob die jungen Damen in Begleitung der graumellierten Herren nicht doch die Töchter sind?
Der Unterschied, ob man Erdbeeren oder Himbeeren im Cocktail hat, ist der: Himbeeren zermatschen schneller und verstopfen immer wieder den Strohhalm.
Draußen auf der Terrasse tanzen ab 2 Uhr Nachts zu einem alternativen DJ nur noch die Angestellten.
Die Reihen lichten sich. Selbst Detlev Buck sieht verloren aus. Nachdem stundenlang hochgepuschte Brüste auf hohen Absätzen an einem vorbeiziehen, zieht die Alkoholschwere den Blick immer penetranter hinunter in die Ausschnitte weiblicher Gesprächspartner. Es wird Zeit, zu gehen.
Nachts um halb Fünf in der Ringbahn sitzen, mit einer Gala-Tüte voller Werbegeschenke in der Hand.
Falls es nicht so geklungen hat: Ich hatte einen tollen Abend. Denn ich weiß: Dies wird nie mein einziges Zuhause sein!
Nach der Lektüre des vorigen, sehr interessanten Beitrags des geschätzten Sims Alabim, möchte ich auch noch eine Antwort geben und dabei gleichzeitig meinen Senf zu dem ganzen Themengebiet ablassen. Ich bitte um Entschuldigung, dass ich das in Form eines Beitrags und nicht eines Kommentars mache, aber es ist doch etwas länger geworden als geplant.
Nur noch zwei kurze Klarstellungen von mir im voraus: Selbstverständlich gilt auch von meiner Seite, dass jede, evtl. polemische, Attacke nur im Kontext eines fröhlichen und intelligenten Diskurses und keinesfalls persönlich zu sehen ist. Zweitens meine ich, wenn ich das Wort Wissenschaft benutze im Wesentlichen was z.B. Wikipedia damit meint:
Wissenschaft ist die Erweiterung des Wissens durch Forschung, seine Weitergabe durch Lehre, der gesellschaftliche, historische und institutionelle Rahmen, in dem dies organisiert betrieben wird, sowie die Gesamtheit des so erworbenen menschlichen Wissens. Forschung ist die methodische Suche nach neuen Erkenntnissen sowie deren systematische Dokumentation und Veröffentlichung in Form von wissenschaftlichen Arbeiten. Lehre ist die Weitergabe der Grundlagen des wissenschaftlichen Forschens und die Vermittlung eines Überblicks über das Wissen eines Forschungsfelds, den aktuellen Stand der Forschung.“
Eine Einschränkung hätte ich bezüglich dieser Definition allerdings. Ich würde „der gesellschaftliche, historische und institutionelle Rahmen, in dem dies organisiert betrieben wird“ ausklammern. Nicht dass das komplett falsch wäre, aber ich glaube dieser Teil ist nur mit sehr viel Vorsicht zu genießen. Die Rassenlehre der Nazis fällt möglicherweise auch in den „gesellschaftliche[n], historische[n] und institutionelle[n] Rahmen“ dieser Zeit, ich würde sie aber höchstens als Pseudowissenschaft bezeichnen. Unter „methodische Suche nach neuen Erkenntnissen“ verstehe ich auch die Beleuchtung unterschiedlicher Standpunkte und Hinterfragung grundsätzlicher, möglicherweise bereits etablierter Prinzipien. Diesbezüglich wäre z.B. eine kritische Diskussion über das Gebiet der Psychoanalyse nützlich, in der es haufenweise Literatur gibt, die sich regelmäßig auf imho nicht ausreichend oder gar nicht bewiesene Grundannahmen Freuds beziehen. Was also in meiner Definition übrigbleibt ist im Prinzip das neugierige Suchen nach neuen Erkenntnissen und die systematische Weitergabe dieser. Eine wichtige Ergänzung noch: Es ja irgendwie logisch, dass man im Bezug auf Wahrheitsfindung, also nicht den persönlichen, subjektiven Glauben betreffend, sondern, was aufgrund rationaler Argumentation für eine Menge von Leuten gemeinsam akzeptierbar ist, so weit wie möglich mit falsifizierbaren Aussagen arbeiten muss. Ein Beispiel für eine nicht falsifizierbare Aussage wäre „Es gibt pinke Schwäne.“ Dieser Satz lässt sich zwar durchaus verifizieren, indem man z.B. einen pinken Schwan findet. Aber die einzige Möglichkeit die Sache zu klären ist eben, solange zu suchen bis man zufällig einen findet. Es liegt also bei dem, der an pinke Schwäne glaubt, was ja durchaus eine Anfangshypothese sein kann, den Beweis zu erbringen. Niemand kann, um einen kleinen Sprung zu machen, von einem Atheisten erwarten, dass er Gott widerlegt. Alles was wir tun können, ist zu zeigen, dass es keine realen Beweise für seine Existenz gibt. Das macht seine Existenz zwar nicht unmöglich, aber aus unserer Sicht eben nun mal sehr sehr unwahrscheinlich.
Nun aber zum Beitrag des geschätzten Sims Alabim. Leider muss ich gleich zu Beginn widersprechen: Atheismus ist, wie der Name schon sagt, keine Religion und mir ist durchaus bewusst, dass das polemisch gemeint ist. Ich kann aber verstehen, wenn manche „Neue Atheisten“ durch eine gewisse arrogante „Ich-hab-die-Weisheit-mit-Löffeln-gefressen-und-mache-in-meinem-Privatleben-nie-irrationale-Sachen“-Haltung den Vergleich mit missionarischen Religiösen nahe legen. Was mich betrifft, es ist jederfraus oder –manns Sache, was persönlich geglaubt wird. Nur sollte Religion und Aberglaube bitte radikalst aus der Politik rausgehalten werden und natürlich hält mein, durchaus vorhandener, Respekt vor persönlichen, privat-psychologischen Empfindungen mich auch nicht davon ab, meine Meinung kund zu tun.
Natürlich kann sich jeder seine Vorbilder in der Geschichte selbst rauszusuchen, prinzipiell möchte ich aber darauf hinweisen, dass fast die gesamte dokumentierte Menschheitsgeschichte hinweg ein „Outing“ als Atheist nahezu überall, wenn nicht zu körperlicher Gefahr, so doch zumindest zu extremer gesellschaftlicher Isolation geführt hat. Selbstverständlich galt/gilt auch manchmal das Gegenteil, siehe Sowjetunion.
Was Moores Statement betrifft, habe ich Monsieur Cabuflé in seinem Kommentar nichts hinzuzufügen. Warum die Vermutung, dass das Bewusstsein ein Ergebnis neurobiologischer Prozesse ist, dessen Wert irgendwie herabsetzen soll, erschließt sich auch mir nicht. Genauso wenig wie die Behauptung, dass dies irgendwie zur Verwässerung von Richtig und Falsch beitragen sollte oder dass es Kunstwerke zu Zufallsprodukten macht. Auch sehe ich nicht, wie die Erkenntnis, „wenn man in Wald und Flur nur verschiedene Kohlenstoffzustände erkennt“, es rechtfertigt die Natur zu zerstören. Das Verständnis naturwissenschaftlicher Vorgänge mindert in meinen Augen nicht deren Wert, ganz im Gegenteil. Ich wünschte, ich hätte diesbezüglich „Der entzauberte Regenbogen“ von Dawkins, das mir gestern geschenkt wurde, bereits gelesen und das sich wohl genau damit auseinandersetzt
Ich sehe auch weder Zusammenhang noch Sinn darin, jeglichen medizinischen Fortschritt unter dem „Siegeszug des Materialismus“ zusammenzufassen und ihn für das Elend in der Welt verantwortlich zu machen. Und leider muss ich auch sagen, dass Sätze wie „Aber seine [wissenschaftlicher Fortschritt] Ausnutzung ist so eng mit dem Entstehen dieser perversen Zustände verknüpft, dass für mich jede Lobpreisung dieses Fortschritts einen schalen Beigeschmack bekommt.“ wenig zu meiner Erhellung und ich würde sogar behaupten, wenig zur Veränderung jener Zustände beitragen, was imho an der viel zu allgemeinen Verwendung der Worte „Wissenschaft“ und „wissenschaftlicher Fortschritt“ liegt. Dass die Erfindung der Atombombe nicht gerade zur hellsten Stunde der Menschheit gehört (auch wenn sie maßgebend zur Entwicklung des modernen Computers beigetragen hat, was aber hoffentlich ohnehin früher oder später geschehen wäre) dürfte klar sein, aber welche Schuld beispielweise erwähnten medizinischen Fortschritt trifft, ist mir nicht klar. Nur um das zu trennen: Politik und Wissenschaft sind verschiedene Dinge. Die Politik der meisten Pharmaziefirmen ist in der Regel größtenteils abstoßend, die Tatsache an sich aber, dass wichtige Medikamente(, die dann „illegal“ oder viel zu spät in armen Gebieten ankommen,) erfunden werden, ist ja wohl zweifelsfrei eine positive.
Was die Moral betrifft, stimme ich geschätztem Herrn Sims größtenteils zu. Wie jemand rechtfertigt, warum sie oder er „gut“ und moralisch handelt bzw. welche Erklärung dafür herangezogen wird, ändert nichts an der Handlung selbst. Ich habe aber Probleme, wenn, wie bei manchen Arbeitgebern der Caritas beispielsweise ein „christliches Menschenbild“ als Einstellungskriterium herangezogen wird. Was genau bedeutet das? Was genau bedeutet christliche oder muslimische oder jüdische Moral? Bedeutet es, dass ich mich z.B. auch daran halten muss: (3. Mose 20,10): “Wenn jemand die Ehe bricht mit der Frau seines Nächsten, so sollen beide des Todes sterben.” Oder daran, dass laut Koran schon Unglaube Sünde ist. Damit will ich nicht behaupten, dass nicht auch schöne, moralische, poetische, ja erleuchtende Passagen in religiösen Texten zu finden sind. Doch als moralisches Handbuch sind die religiösen Texte eben nur dann geeignet, wenn klar ist, manche Stellen sind Unfug und manche können durchaus Quellen hoher Inspiration sein. Es ist eben einfach nicht so klar und eindeutig , was eine christliche, etc. Moral ist. Religion sollte nicht mehr Autorität in dem philosophischen Diskurs um Moral haben, als irgendjemand sonst. Dass religiöse Menschen darüber hinaus im Durchschnitt nicht altruistischer handeln als nicht religiöse Menschen ist mittlerweile mehrfach durch Studien belegt.
Ich kenne mich auf dem Gebiet des Materialismus oder der „Geheimwissenschaften“ nicht genügend aus, kann den Positionen des geschätzten Sims Alabim hier aber soweit ich das sehe zustimmen. Wie du ja sagst sind Wissenschaft und Materialismus nicht zwangsläufig dasselbe.
Weiter also im Text: Leider muss ich heftigst widersprechen, wenn werter Herr Alabim schreibt : “Ob jemand auf Busse schreibt „God does not exist†oder auf Plakate „God hates Fags“, da sehe ich in punkto Borniertheit wenig Unterschied.“ Auch wenn meines Wissens diese Initiative nicht von Dawkins gestartet wurde und es ja wie du nachgeschoben hast „God does probably not exist“ sehe ich da Unterschiede, die größer nicht sein könnten. „God does probably not exist“ ist eine Meinung und eine die durch die simple Tatsache, dass es keine nachgewiesenen Gottesbeweise gibt, mehr als zementiert wird. Dieser Satz ist für mich nicht mehr boniert als „Harry Potter does not exist“. „God hates Fags“ dagegen ist eine offensichtlich aggressive Beleidigung in der die Gewaltandrohung fast spürbar ist.
Wie von Cabuflé ja bereits sehr schön ausgedrückt, heißt weder Wissenschaft noch Atheismus, dass subjektive Welten, Gefühle, Fantasien, Empfindungen, Erfahrungen nicht etwas absolut wunderbares und menschliches sind und ihr Wert verringert sich kein Stück dadurch, dass es daneben noch die objektive Realität, die natürlich nicht absolut eindeutig ist, gibt. Aber wenn ich reale, konkrete Lebensentscheidungen treffen will, dann will ich eben doch wissen, wo ungefähr die Grenze liegt zwischen Objektivem und Subjektivem bzw. was mit einigem Recht als „objektive Wahrheit“ bezeichnet werden kann und da hilft die Wissenschaft und dafür ist sie da.
Zum Wesentlichen Rest des Beitrages kann ich nur sagen: dito. Mich kotzt es genauso an, wenn manche Leute Atheismus oder Wissenschaft nur als weiteres Label benutzen, um ihre Ignoranz und Arroganz zur Schau zu tragen. Aber der „Spirit“ einer neugierigen Wissenschaft, der Gedanke, dass rationales Betrachten aus mehr als einem Blickwinkel etwas Gutes ist, dass Glauben um des Glaubens willen und verbohrtes Beharren auf subjektiven Empfindungen, wenn es um weltliche, politische Dinge geht, dagegen schlecht ist, das ist etwas mit dem ich mich auf jeden identifizieren kann.
Aber ist es nicht auch einfach etwas langweilig zu sagen „God did it“, wenn es z.B. um den Urknall geht, während es haufenweise viel interessanterer Theorien von Multiversen, Paralleluniversen und was weiß ich nicht noch alles gibt? Was mich persönlich betrifft habe ich einfach festgestellt, dass die meisten religiösen und esoterischen „Erklärungen“ wie Gedankenstopper auf mich wirken. Hier hast du deine Erklärung und gut is. Kein weiteres Warum, kein Weiterfragen, wie z.B. „Und wer hat Gott gemacht?“. Dabei würde ich mich durchaus als spirituellen Menschen bezeichnen. Nicht im religiösen oder esoterischen Sinn. Ich liebe z.B. Meditation. Und ich finde es wunderbar, dass man jetzt real messen kann, wenn jemand in Trance geht, dass man messen kann, wie sich die Gehirnströme verändern, dass andere Regionen durchblutet werden, usw.. Das macht das Erlebnis nur umso besser, weil ich weiß, dass es etwas reales ist und nicht etwas, das ich mir nur einbilde. Und etwas wunderschönes noch dazu.