Heumann hatte Geburtstag, und er würde die Doors auflegen.
Weitere Gedanken hatte er sich über den Verlauf des Tages nicht gemacht, wurde ihm bewusst, als nach und nach die ersten Gäste erschienen. Er hatte im Garten seiner Eltern ein Partyzelt aufstellen lassen, es war mit einer reichhaltigen Kuchenplatte bestückt, später am Abend würde es Grillware geben, Musik natürlich und Tanz und reichlich zu trinken, aber er hatte sich nicht um eine nähere Auswahl der Musik gekümmert, es war ihm egal, früher oder später würde ein paar seiner Freunde, wie sie es immer taten, dieses Amt mehr oder weniger an sich reißen, ihren iPod mit der Anlage verbinden und das laufen lassen, was ihrer Meinung nach die beste Playlist für den Abend war. Heumann kümmerte das nicht, er war sogar zufrieden, dass ihm jemand diese Aufgabe abnahm, so lange er an einem bestimmten Punkt des Abends dazu kommen würde, die Doors aufzulegen. „The End“.
Die ersten Gäste waren die Paare mit Kindern. Für sie war es natürlich bequemer, am Nachmittag zu kommen. Heumann hatte vollstes Verständnis dafür. Die Kinder würden schreiend und tobend durch den Garten rennen, mindestens zwei davon würden in eine handfeste Auseinandersetzung geraten, die dazugehörigen Eltern würden, weil sie einander gut verstanden, nicht mehr unternehmen als einen halbherzigen Versuch, den Streit zu schlichten. Die Jüngsten würden in ihren Kinderwagen schlummern, aufwachen, ein hustendes, quäkendes Baby-Heulen von sich geben und von ihren Müttern in einer stillen Ecke des Hauses oder des Gartens, zum Beispiel hinten bei der alten Kinderschaukel, die Brust bekommen. Heumann ertappt sich dabei, wie er einer alten Schulfreundin, die soeben einen ikeagrünen Kinderwagen vor sich herschiebend das Grundstück betreten hat, eine Sekunde zu lange auf die voluminöse Brust starrt.
Heumann ist derzeit Single. Heumann lebt derzeit nicht in einer Beziehung. Heumann hat seine Wohnung derzeit für sich allein. Heumann wird derzeit per Hand betrieben. Heumann wird 30, und wenn er sieht, wie all seine Schulkameraden ihr Privatleben zur Kleinfamilie ausgebaut haben, spürt er einen Stachel. Dieser Stachel wird nicht verschwinden, wenn die Elternpaare nach dem Genuss mehrere Portionen Grillfleisch sehr schnell erklären werden, dass die Kleinen nun ins Bett müssten, und sie selbst seien es ja nun leider auch nicht mehr gewohnt, und nach 22 Uhr fallen ihnen gerne schon Mal die Augen zu. Heumann wird sich dann einreden, wie frei er doch ist, dass ihm die Augen noch nicht zufallen, dass er noch bis in die Puppen tanzen wird auf seinem Geburtstag, mit all seinen Freunden. Heumann fragt sich, ob er warten soll, bis all die Eltern mit ihren Kindern fort sind, ehe er die Doors auflegt.
This is the end…
Heumann macht sich nichts vor. Er weiß, dass auch die kinderlosen Gäste gegen Mitternacht verschwinden werden. Die meisten von ihnen haben feste Freundinnen, was er ihnen neidet, oder feste Freunde, die er beneidet, und die werden entweder mit dabei sein und langsam an der Seite ihres Lebensabschnittsgefährten müde und quengelig werden, nicht anders als die Kinder, oder sie werden zuhause warten und gesagt haben „wenn du vor ein Uhr heimkommst bin ich noch wach”, und seine Freunde werden diese Zeichen zu deuten gewusst haben, und weil das Grundstück ja doch ein wenig außerhalb liegt und der Weg nach Hause weit ist, werden die Meisten dem subtil genervten Blick ihrer Partner irgendwann nachgeben und „es dann Mal packen.” Ãœbrig bleiben werden ein paar Hartgesottene, die Verwandtschaft, die sowieso hier übernachtet, und Andrea von der Arbeit, mit der Heumann nichts anfangen kann.
Es ist ein herrlicher Tag, die Sonne scheint, alle Gäste, die sich gerade erst kennengelernt oder einander schon lange nicht mehr gesehen haben, können Gesprächslücken mit der Feststellung füllen, dass man schon großes Glück habe mit dem Wetter. Die Eltern müssen ihre Kinder ermahnen, die Kuchenstücke nicht einfach in sich hinein zu schaufeln, sondern Obacht zu geben wegen der Wespen. Sie beschreiben ihren Sprösslingen den qualvollen Tod, den man erleidet, wenn einem eine Wespe von innen in den Hals gestochen hat. Der ikeagrüne Kinderwagen steht leer, und Heumann muss seinen Drang überwinden, Ausschau nach der Besitzerin zu halten. Im Geiste sieht er sie hinten im Garten auf der Kinderschaukel sitzen, den tiefen Ausschnitt des Sommerkleides so weit nach unten gezogen, dass sie ihre mächtige, runde Brust herauspressen kann, um den kleinen Vampir daran nuckeln zu lassen.
Das Zelt füllt sich mit Gästen. Es ist etwas zu heiß darin und die weißen Seitenwände des Zeltes riechen nach Plastikplane. Später am Abend wird es kühler werden und dann wird man froh sein über das Zelt. Heumann stellt einander die Gäste vor. Alte Schulkameraden, entfernte Verwandte, Urlaubsbekanntschaften, Arbeitskollegen, Freunde von Früher, ein paar Verflossene, und ein paar, die es nicht einmal zu Verflossenen gebracht haben (was nicht daran liegt, dass Heumann es nicht versucht hätte, oh nein), alle sind sie gekommen. Sogar sein alter Mathematiklehrer ist da. Und fast seine ganze Abiturklasse. Das Abitur jährt sich zum zehnten Mal in diesem Sommer, und da spart man sich die mühevolle Organisation eines Klassentreffens, wenn einfach alle zu Heumanns Geburtstag kommen. Die meisten von ihnen werden dieses Jahr ebenfalls 30 oder sind es schon geworden. Von nicht einmal einem Viertel hat Heumann eine Einladung bekommen. Ihn wundert das nicht. Die anderen haben vermutlich auch nicht so groß gefeiert, denkt er sich.
Ein Windhauch fegt durch das Zelt und lässt einen Spätsommergeruch hindurchwehen, der eigentlich nicht hierher gehört. Erst sehr viel später an diesem ereignisreichen Abend wird Heumann auffallen, dass es nach gemähtem Gras gerochen hat, das zum Trocknen auf den Feldern liegt, nach dem Staub abgeernteter Getreidefelder und dem gesunden Schweiß eines harten Arbeitstages der in den roten Strahlen eines brennenden Sonnenuntergangs trocknet. Dabei ist es gerade erst Juni. Heumann blickt unwillkürlich auf und sieht einen Cowboy im Eingang des Zeltes stehen. Der hereinwehende Staub reduziert seine Gestalt auf eine graue Silhouette im Gegenlicht. Heumann sieht den breitkrempigen Hut, den Umriss des langen Staubmantels, möglicherweise sogar die schweren Revolver an den Hüften des Mannes und wundert sich nicht einmal. Eine Schulfreundin mit Glutamatunverträglichkeit und Lactoseallergie hat ihren eigenen Kuchen mitgebracht, und fragt Heumann, ob er ein Stück probieren möchte. Bis Heumann Nein gesagt hat, ist der Revolvermann aus seinem Bewusstsein verschwunden. Weiterlesen…