Der Held von Solln


Malibu Aircraft; 2009-09-16

Erstmal: Der Herr, der für seinen Mut sterben musste, ist ohne Frage ein Held. Hier soll es nicht um zynisches Medien-Bashing gehen und eigentlich ist es gut möglich, dass der folgenden Post mit dem konkreten Fall überhaupt nichts zu tun hat.

Ich will nur zu diesem “Anlass” ein paar Studien und Entdeckungen zum Zuschauereffekt in Erinnerung rufen. Nur um das nochmal klarzustellen: Was ich hier schreibe, hat möglicherweise überhaupt nichts mit dem konkreten Fall zu tun. Es soll weder den Kindern, die ja anscheinend sogar Umstehende direkt angesprochen haben, welche dann trotzdem untätig blieben, Vorwürfe machen, noch die passiven Gaffer entlasten.

Ich gebe hier mehr oder weniger ein Kapitel aus dem exzellenten Buch “Influence” von Robert B. Cialdini wieder.

Das erste Mal, dass der Zuschauereffekt (auch Genovese-Syndrom) ernsthaft untersucht wurde, war nach dem Tod von Catherine Genovese im März 1964, eine Geschichte, die nur durch Zufall überhaupt ihren Weg in die Medien fand.

Für mehr als eine halbe Stunde konnten 38 New Yorker aus ihren Fenstern beobachten, wie Catherine Genovese erstochen wurde. Zweimal wurde der Mörder von Stimmen und Lichtern abgeschreckt, doch immer holte er sie wieder ein, bis sie schließlich starb. Erst nach ihrem Tod wurde die Polizei alamiert.

Zwei Psychologie-Professoren formulierten eine damals scheinbar unmögliche Theorie: Sie glaubten nicht, dass nichts unternommen wurde, obwohl es 38 Zeugen gab, sondern mindestens teilweise gerade weil es 38 Zeugen gab.

Sie führten ein Experiment durch, in dem ein Student einen epileptischen Anfall vortäuschte. Er bekam Hilfe in 85 Prozent der Fälle, wenn ein Zuschauer anwesend war, aber nur in 31 Prozent der Fälle, wenn fünf Zuschauer anwesend waren.

Seit dem haben mehrere Studien gezeigt, dass die Wahrscheinlichkeit, dass irgendjemand in einer Notfallsituation eingreift, sinkt, je mehr (unbeteiligte) Personen anwesend sind. “Adrenalinsituationen” sind möglicherweise gerade die Umstände, in denen wir am ehesten auf unsere primitivsten, evolutionären Instinkte zurückfallen. Wenn es vor einigen hundertausend Jahren einen Kampf oder einen Notfall innerhalb eines Stammes gab, blickten unsere Vorfahren vermutlich auf die anderen Mitglieder und vor allem auf den Stammesführer. Wenn beispielsweise ein Kampf zwischen zwei Stammesangehörigen stattfand, konnte es sein, dass der Stammesführer aus diesem Kampf Nutzen zog. In dem Fall hätte er vermutlich jeden bestraft, der sich ohne Erlaubnis eingemischt hätte. (Was eine von vielen möglichen Erklärungen sein könnte.)

Um überdeutlich zu sein: Das ist selbstverständlich KEINE Entschuldigung für Gaffer. Was uns als Menschen auszeichnet, ist ja gerade die Tatsache, dass wir unsere niederen Instinkte zumindest größtenteils unter Kontrolle bringen können. Ich glaube aber es hilft, sich solcher Dinge bewusst zu sein und zu lernen in welchen Situationen unsere Intuition uns helfen kann und in welchen sie uns vermutlich genau das Falsche raten wird. Bei einem Notfall mit vielen anderen (passiven) Menschen anwesend zu sein, ist wahrscheinlich eine dieser Situationen. Insofern hilft es auch wenig, wenn die Medien immer wieder wiederholen: Es wurde nicht geholfen, obwohl viele Zuschauer anwesend waren. Ich weiß nicht, ob man immuner gegen den Zuschauereffekt wird, wenn man über ihn Bescheid weiß, aber etwas mehr Aufklärungsarbeit von den Medien könnte sicher nicht schaden.

Cialdini rät in solchen Fällen übrigens, Menschen so direkt wie nur irgendwie möglich anzu”sprechen”, z.B. mit dem Finger auf eine Person zeigen und rufen: “Sie da, in der blauen Jacke…”

Das Erschreckende ist, dass auch das in Solln wohl nichts geholfen hat. Die Kinder haben, wie gesagt, die Umstehenden ja tatsächlich direkt angesprochen.

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