Ihre empfohlene Tagesration Schwachsinn


Sims Alabim; 2008-10-17

Das Deutsche Volk ist ja dafür verschrieen, dass das Einhalten von Regeln und Vorschriften ihm besonders im Blut läge. Ich glaube aber, dass auch bei uns die Empfehlung dabei ist, die Vorschrift abzulösen.

Navigationssysteme empfehlen uns mittlerweile beim Autofahren nicht nur Routen, sondern auch Geschwindigkeiten oder das Ansteuern einer Raststätte. Wenn wir uns erst alle daran gewöhnt haben, diese Geräte nicht mehr militärisch “Navigationssysteme” sondern eher “driving consultants” zu nennen, werden Verkehrsregeln auch nicht mehr diese Wichtigkeit haben, und wir werden auch das rote Licht einer Ampel eher als Empfehlung begreifen, jetzt den Anderen Vortritt zu lassen, die aber nicht bindend ist. Andere Völker Europas (ich nenne jetzt keine Namen) haben uns das ja schon lange vorgemacht.

Das Internet ist natürlich Vorreiter auf diesem Gebiet. Members, die diesen Porno mehrfach angesehen haben, interessierten sich auch für … oder: Kunden, die sich dieses Potenzmittel bei uns bestellt haben, hatten im Bett auch große Freude mit …

Und auch Politiker haben die Gesetze, für deren Erlassung und Einhaltung sie letztlich verantwortlich sind, für sich selbst auch immer eher als Handlungsempfehlungen verstanden, die in einer modernen Gesellschaft wie der unseren eigentlich auf die Situation des Individuums jeweils abgestimmt werden sollten.

Was die körperliche Gesundheit angeht, sind wir schon bestens versorgt: Auf dem Tablett, auf dem man sein Maxi-XXL-Sparmenü in den (empfohlenen) Raucherbereich des „Lokals“ tragen kann, sind die Kalorien, die man mit dieser Mahlzeit zu sich nimmt, fein säuberlich zum späteren Ausgleich durch Squash oder Tennis aufgelistet. Doch bei all den Fitness- und Diätplänen, bei all den empfohlenen Tagesrationen an Vitaminen, Kohlehydraten, Fetten und Schwermetallen, die allesamt in einem einzigen Joghurt vereint worden sind, frage ich mich doch, wie es eigentlich um unsere geistige Gesundheit bestellt ist.

Wann legt endlich Mal jemand die empfohlene Tagesration an Schwachsinn fest, der ein Mensch sich aussetzen darf, um nicht zum willenlosen Tölpel zu verkommen oder zum Amokläufer zu werden? Wann entwirft jemand einen Diätplan, der uns zum Beispiel vorschlägt, am Tag nicht mehr als 15 Videos auf YouTube zu sichten, und dafür nicht ohne den Konsum von wahlweise einem Zeitungsartikel oder einem Kapitel in einem nicht illustrierten Buch Schlafen zu gehen?

Wenn mir Marcel Reich-Ranicki in seiner Diskussionsshow mit den Fernsehintendanten nicht zuvor kommt, würde ich mich selbst dazu anbieten, ein Punktesystem zu entwerfen, an dem man sich orientieren kann. Eine Schlagzeile auf web.de würde zum Beispiel 5 Schwachsinnspunkte bekommen, eine komplette Folge DSDS läge bei etwa 100, das entspräche dann 5 Minuten von Kanal Telemedial oder dem Klatschteil der Bildzeitung. Wer die empfohlene Tagesdosis von etwa 75 Punkten überschreitet, dem wird empfohlen, sein Konto mit Dingen auszugleichen, die Minuspunkte haben, etwa einem Live-Album von Konstantin Wecker oder der Lektüre dieses Blogs. Dann wird man schon bald Menschen, von denen man es niemals vermutet hätte, mit Reclamausgaben von Schiller, Rilke oder Kant in der U-Bahn sitzen sehen, bei dem Versuch, ihr durch den Besuch einer Show von Mario Barth hoffnungslos überzogenes Schwachsinnskonto wieder ins Lot zu bringen.

Ich kann den Einwand schon hören, dass mein Punktesystem vielleicht den Schönheitsfehler haben könnte, ein wenig subjektiv zu sein. Menschen, die diesen Einwand erheben, möchte ich die Gegenfrage stellen, ob sie heute schon ihre empfohlene Tagesration an Vitamin E zu sich genommen haben, und wenn nein, warum nicht, und wenn ja: Warum eigentlich?

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