Die Insel – eine Parabel


Sims Alabim; 2009-02-22

Vor langer Zeit einmal als Geschichte in einer Geschichte entworfen. In seiner Aussage tendenziöser, als ich es in Erinnerung hatte. Eifrige Leser dieser Seite (gibt es solche?) werden schnell draufkommen, warum sie mir wieder eingefallen ist.

Es war einst eine Insel, die lag einsam im weiten Meer. Ihre Küsten waren flach, das Land fruchtbar und die Menschen dort mit ihrem Dasein zufrieden.  Auf den Feldern gedieh das Getreide, auf den Weiden züchteten sie Schafe, in den Hainen Obst, und Abends sahen sie dem Tod Sonne zu, wenn sie im Meer versank.

Eines Tages rollte ein schwerer Sturmwind über die See. Die Wellen tosten und schlugen gegen den Strand, das Meer war schwarz, und Blitze zuckten über den Himmel.

Tags darauf fand man gegen den Strand hingeworfen ein eigentümliches, hölzernes Gebilde, in dessen Trümmern fand man ein paar Menschen mit langen Bärten, mehr tot als lebendig. Obwohl man sich nicht erklären konnte, woher diese Fremden gekommen waren, richtete man ihnen Lager, gaben ihnen zu Essen und zu Trinken und pflegten ihre Wunden.

Doch wie staunte man, als die Männer endlich ihren Mund auftaten, und ganz und gar unverständliche Worte über ihre Lippen kamen.

Da begriffen die Menschen auf der Insel, dass das Meer diese Männer geboren haben musste, dass das hölzerne Gefährt, mit dem sie gekommen waren, ihre Wiege gewesen war, und dass diese Männer erst das Sprechen lernen mussten, wie die kleinen Kinder; genauso wie es auch eine Zeit lang dauerte, bis sie das Laufen beherrschten.

Nach einer langen Zeit aber hatten die Männer aus dem Meer endlich das Sprechen gelernt. Doch was sie nun erzählten, das kam den Bewohnern der Insel erst so töricht vor, dass sie glaubten, die Männer hätten noch immer den Geist eines Kindes.

Mit ihrer Wiege, so erzählten die Seemänner, seien sie über das Meer gefahren. Der hölzerne Kiel sei über die Wellen geritten, ohne darin unterzugehen, und der Wind habe in große aufgespannte Tücher geblasen, und auf diese Weise habe er sie über das Meer getragen.

Da lachten die Menschen, und führten die Seemänner zum Strand und zeigten ihnen den Horizont. „Dort,” sagten sie, „ist das Meer zu Ende. Man kann das ganze Meer erblicken, wenn man nur einmal den Strand herumgeht, bis man wieder hier ankommt. Wenn ihr mit euerer Wiege über dieses Meer gefahren wärt, so hätten wir euch doch sehen müssen.”

Als nun die Sonne morgens im Osten den Horizont hinaufstieg, sprachen die Seemänner: „Seht die Sonne. Gestern ist sie dort im Meer versunken, nun taucht sie am anderen Ende wieder auf. Ist das nicht ein Beweis, dass die Welt hinter dem Rand des Meeres weiter geht?”

Da lachten die Inselbewohner und sprachen: “Aber diese Sonne ist doch nicht  dieselbe wie gestern. Das Meer gebiert jeden Tag eine neue Sonne, und wenn sie zu erlöschen beginnt, sinkt sie hernieder und stirbt im Meer.”

Da erzählten die Seeleute den Inselbewohnern von der Welt, aus der sie kamen, und von der Welt die sie bereist hatten. Sie erzählten ihnen von den weiten Küsten ferner Länder, von goldenen Palästen und weißen Städten, von grünen Wäldern und heißen Wüsten, von hohen Bergen und Ländern aus gefrorenem Wasser, von Flüssen und Ebenen, von Herden mächtiger Tiere, von fremden Völkern, von Ungeheuern und Helden, von jahrelangen Kriegen und rauschenden Festen, von allen Wundern dieser Welt.

Doch die Menschen auf der Insel hielten all das für Traumgesichter und Hirngespinste, und sie zweifelten am Verstand der bärtigen Männer.

Da beschlossen die Seeleute, ein neues Schiff zu bauen, groß genug, um alle Bewohner der Insel mit sich zu nehmen, und dann wollten sie mit ihnen zu weit entfernten Küsten anderer Länder segeln, um ihnen die  Welt zu zeigen. Doch dafür brauchten viel Holz für den Kiel, und viel Tuch für die Segel; mehr als das Inselvolk ihnen zugestehen wollte.

„Wenn ihr auf unseren Äckern und Feldern Bäume pflanzt, und Schafe weiden lasst, dann wird uns nicht mehr genug zum Leben bleiben, denn wir brauchen Getreide und Früchte, um uns zu ernähren.” „Dann werdet ihr einige Zeit lang hungern müssen,” sagten die Seeleute. “Doch wenn ihr erst die Welt bereisen könnt, werdet ihr Speise und Trank genug bekommen, und von solch einer Fülle und Vielfalt und Köstlichkeit, wie ihr sie euch gar nicht vorstellen könnt.”

Doch die Inselbewohner, die den Geschichten der Seeleute noch immer keinen Glauben schenkten, wollten nicht für etwas Hunger leiden, an das sie nicht glaubten. Also ließen sie es sein, und alles was die Seeleute bekamen, waren ein paar Bretter und ein wenig Wolle, und damit und aus den alten, verrotteten Trümmern ihres Schiffes zimmerten sie sich ein kleines, wackeliges Boot, in das sie gerade so hineinpassten.

Und so verschwanden die Seeleute eines Tages gen Westen, und sie versprachen, wenn sie die Heimat erreichten, wiederzukehren, mit einem großen, mächtigen Schiff, und alle Bewohner der Insel mit sich zu nehmen, die dieses wünschten.

Die Inselbewohner sahen zu, wie das Schiff kleiner und kleiner wurde und dann im Westen am Horizont verschwand. „Nun hat das Meer sie verschlungen,” sagten die Alten. „Nein, sie sind nur über den Rand unseres Blickes hinausgefahren,” erwiderten die Jungen, „und sie werden kommen und uns allen beweisen, dass es all die Wunder wahrhaftig gibt, von denen sie erzählt haben.”

Doch die Alten behielten recht, denn die Seeleute kehrten nicht wieder, auch nach vielen Jahren nicht. Man weiß nicht, was mit ihnen geschehen ist. Vielleicht ist ihr Schiff in einem Sturm gekentert, und das Meer ist ihr Grab geworden, oder sie haben nach der langen Reise ihr Versprechen vergessen, oder fanden die Inselbewohner nicht mehr der Mühe einer langen Seereise wert.

Doch auf der Insel vergaß man die Seefahrer nicht mehr. Die Kinder hatten sich ihre Geschichten tief eingeprägt, und sie gaben sie untereinander weiter, und erzählten sie auch ihren Kindeskindern. Und eine tiefe Sehnsucht entstand im Herzen des Inselvolkes. Von nun an lebten sie in dem Wissen, dass es außerhalb ihrer Insel eine andere Welt gab, die viel prächtiger und größer und wundervoller war, als ihre Äcker und Weiden, und auch, als dieses Wissen nur noch eine Ahnung war, ein ferner Traum, ein flüchtiges Versprechen, wollte die Sehnsucht nicht mehr aus ihrem Herzen weichen.

Und so gab es bald zweierlei Menschenschlag auf der Insel. Gegenseitig schimpften sie sich Träumer und Furchtsame. Die Träumer pflanzten Bäume an, und schützten diese Wälder vor den Äxten der Furchtsamen, sie züchteten Schafe und immer mehr Schafe, hielten sich große Herden, die ihnen die Weiden kahl fraßen, aber die sie nicht schlachteten, um eines Tages genug Tuch für ihre Segel zu haben.

Die Furchtsamen aber fürchteten, dass sie den Märchen und Legenden von einer Welt dort draußen nicht trauen konnten, dass es nur Lüge war, Hirngespinst und Einbildung. Sie fürchteten, eine große Hungersnot würde ausbrechen, wenn nur noch Bäume und Schafsweiden auf der Insel waren, und keine Äcker und Gärten mehr, die sie mit Nahrung versorgten. Die Milch, die die Schafe gaben, und die Früchte, die manche der Bäume trugen, schienen ihnen zu wenig zum Leben, auch wenn einige von ihnen zugaben, dass sie zuweilen besser schmeckten und auch länger sättigten als das Korn von den Feldern und das Gemüse aus den Gärten.

Und so versuchten die Furchtsamen, die Wälder wieder zu zerstören, die von den Träumern gepflanzt worden waren, und die Schafe zu töten, bis es nur noch kleine Herden waren. Manche der Furchtsamen gingen sogar so weit, dass sie sich zum Ziel machten, alle Bäume zu fällen und zu verbrennen, jede Saat aus den Kernen ihrer Früchte zu vernichten, und alle Schafe zu schlachten und aufzuessen, so dass es keine Schafe und keine Bäume mehr auf der Insel geben würde, und die Träumer nicht länger mit ihren verrückten Plänen die wertvollen Äcker der Insel in Beschlag nehmen konnten.

Dies war nun das bittere Schicksal der Insel, denn weder die Furchtsamen, noch die Träumer gewannen je die Oberhand. So gab es nie genug Holz und genug Tuch für ein großes Schiff, doch stets zu wenig zu essen, so dass sie seit Jahren ganz umsonst Hunger litten. Manchmal gerieten die Streitereien auf der Insel ganz und gar aus dem Rahmen, und dann kam es schon vor, dass Blut floss, dass die einen den anderen die Hütten ansteckten und die Schädel einschlugen. Es gab Zeiten, da brannten die Wälder und wurden die Schafe erschlagen, es gab Zeiten, da brannten die Kornfelder, und wurden die Gärten zertrampelt. Es gab Zeiten, da lebten die Furchtsamen und die Träumer friedlich nebeneinander, weil sie genug von Blut und Tränen hatten. Doch Blut und Tränen gerieten in Vergessenheit, die alten Träume und alten Sorgen aber währten länger, und der Streit begann von neuem.

Längst hatten sie in bitteren Lektionen gelernt, dass ihre Insel zu klein war, um alle zwei Parteien glücklich zu machen. Sie konnten das Schiff nur bauen, wenn jeder auf der Insel bereit war, dafür zu hungern, und sie konnten nur alle satt werden, wenn jeder auf der Insel bereit war, dafür auf seinen Traum von Freiheit zu verzichten.

Seit einigen Jahren aber gibt es eine neue Legende auf dieser Insel. Eine, die nicht von den Seefahrern erzählt wurde, und von der man nicht weiß, ob sie ein Traum war, eine Vision, eine Lüge gar, oder einfach nur eine verzweifelte Hoffnung.

Diese Legende erzählt von einem Kind, welches einst auf die Insel kommen soll. Die einen sagen, es wird geboren werden von einer jungen Frau reinen Herzens, die anderen sagen, es wird mit einem Schiff über das Meer treiben, wie einst die Seeleute. Dieses Kind wird heranwachsen auf der Insel, und es wird einen Weg finden, wie beide, die Furchtsamen und die Träumer, endlich gemeinsam ans Ziel kommen können. Die einen glauben, es wird ihnen zeigen, wie man mit weniger Holz und Tuch zurechtkommt, andere glauben, es wird den Menschen zeigen, wie man sich von weniger Korn ernährt, und trotzdem satt wird, manche denken, es wird den Furchtsamen ihre Angst nehmen, andere fürchten sogar, es wird den Mutigen ihre Träume nehmen, viele hoffen, es wird wissen, wie Bäume, Weiden, Schafsherden, Korn und Früchte gleichzeitig wachsen können, ja und es gibt sogar welche, die wollen wissen, dass es bereits mit einem Schiff auf die Insel kommen wird, das groß genug ist für sie alle.

Doch was auch immer dieses Kind tun wird, es wird den Streit beenden, und die Insel wird dann entweder zur Vergangenheit werden, oder eine neue Zukunft haben.

Und auf die Ankunft dieses Kindes warten die Bewohner der Insel bis heute.

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