Linke Arroganz
Malibu Aircraft; 2009-07-01
Iranische Oppositionelle als “Discomiezen” und “Strichjungen des Finanzkapitals” – was sich anhört wie Mullah-Propaganda, stammt aus den Webforen der deutschen Linken. In ihrer Bewunderung für das islamistische Regime sind sie sich mit ihrem schärfsten Gegner einig: den Neonazis.
Vielleicht etwas pauschal der Artikel, deckt sich aber ziemlich mit meinen Diskussionen mit einigen selbsterklärten Linken, Postmodernen und Antifaschisten.
Auch empfehlenswert: Hitchens zur “Wahl” und persischer Paranoia und erstaunlicherweise hat Broder auch was intelligentes zu sagen.
…das ist ja das tolle an der von mir als global empfundenen situation in der ersten welt: der kapitalismus, so wussten wir, aber die “ernsthaften” linken schon lange, bricht zusammen- die gelegenheit, mit der ein oder anderen perversion hinters haus zu gehen und ihr schmerzlos ins genick zu schießen. auch, wenn man will, die gelegenheit, dieses ganze fiese kapitalismusding mal zu revidieren, einfach mal realitäten anerkennen, umverteilen etc., was solls, wie soll es denn “noch schlimmer” werden?
aber schade, ausgerechnet jetzt haben gerade alle, die die letzten jahre dieses schöne, umjubelte prophetendasein geführt haben und sich mit brillianter logik und tiefer, wohlüberlegter überzeugung hervorgetan haben, ihre eier gerade bei der frühlingswartung oder sonstwo abgegeben. “scheiße, müssen wir jetzt echt MACHEN, was wir die ganze zeit gesagt haben? ich mein klar müssen wir was ändern, aber, ich meinte doch nicht wirklich WIR. erst recht nicht ICH.”
und da ist es doch einfach mal so viel besser, genau wie die unbelehrbaren, vergebens die rolltreppe hochwollenden neoliberalen und der ganze golfclub, einfach so weiter zu machen wie bisher. bischen pöbeln, begriffe wie umverteilung, schere zwischen arm und reich ins augenmerk der gesellschaft rücken, sowieso: bewusst machen! die weltbevölkerung muss nur mal SEHEN, was da für eine zumutung fabriziert wird! dann werden die da oben schon an ihre zahlenmäßige nichtigkeit erinnert.
deswegen: ach, der westen, ach die kapitalisten, ach die gleichschaltung der medien, ach die kulturelle annektion des nahen ostens- viel schlimmer, weil strukturell faschistisch und hegemonial.
und das ist VIEL schlimmer als diese harte hand, die sich gegen discomiezen und bezahlte putschisten zur wehr setzt -alles für den staat, alles für die zukunft.
so, ich geh mir jetzt ein tribal stechen lassen und färbe mir die spitzen, das wird doch alles nichts. es sei denn, jemand weis, wie man besagte eier (deren völlig unerwiesene existenz ich hier mal ins augenmerk der gesellschaft rücken will) wieder auslösen kann.
Schön gesagt. Auch wenn ich persönlich glaube, dass uns der Kapitalismus noch eine ganze Weile begleiten wird bzw. der Begriff an sich ja auch schon unterschiedlich definiert wird.
ja, das ist ja scheinbar der scherz: ohne, dass signifikante teile der bevölkerung weggehäxelt werden, bewegt keiner seinen arsch bzw. bestreitet jeder die bloße kenntnis seines arsches. und ungeachtet meines gespannten verhältnisses zu rhetorischen figuren: wie soll das denn noch offensichtlicher werden, das früher oder später auch der schöne kreislauf des geldes und die ganze tolle idee mit der verzinsung IRGENDWANN kaputtgeht/kaputtgehen MUSS? ich meine, das ist gerade passiert/passiert immer noch, und sogar die professionellen Antikapitalisten wollen doch lieber beim alten bleiben. dementsprechend ein exkurs in halb domestizierte zukunftsvisionen :
…also MÃœSSEN die fiesen globalisierten konzerne sich ja als nächsten oder übernächsten etc. schritt im internationalen wettbewerb eigene armeen anschaffen, um sich endlich von diesen ganzen staatlichen verpflichtungen, regulationen und gesetzen zu lösen. das wird einfach irgendwann ein sicherheitsfaktor für die anleger werden. und wenn konzerne staatenähnliche gebilde wären, dann würden sie auch pfleglichst nicht kollaborativ mit “dem volk”arbeiten. denn der kapitalismus ist glaube ich deshalb so stark, weil er die einzige mir bekannte “gesellschaftsform” ist, die keinen paradiesischen endzustand anstrebt, sondern irgendein diffuses abstraktes ziel in der zukunft anstrebt, sich demzufolge immer weiterentwickeln muss. ergo wird sich auch irgendwann die frage stellen, wie man absatzmärkte denn besser zugänglich machen kann… oder konkurrenten ausstechen… oder konkurrenten die absatzmärkte einfach austrocknen.
und dann oder ein wenig später wird es krieg geben, weil menschen sich scheinbar erst dann bewegen, wenn die karre im dreck sitzt und die darauf gestapelte kacke lichterloh in flammen steht.
gelobt sei die optimistische weltsicht. gepriesen sei das notorische schwarzmalen.
aber seitdem ich gestern mitbekommen habe, dass ein mir direkt bekannter und durchaus geschätzter typ noch NIE in seinem 23jährigen leben menschen innerhalb eines natürlichen kontextes hat tanzen sehen, finde ich, ich kann mir viel mehr pessimismus leisten. wenn so weltfremdes anhedonistisches leben möglich ist, dann kann ich mir vernichtende globale zukunftsperspektiven auch leisten.
Das führt jetzt weg vom durchaus spannenden Thema, aber ich wäre neugierig zu erfahren, was Du unter einem “natürlichen Kontext” verstehst, innerhalb dessen Menschen tanzen, und in welchen unnatürlichen Kontexten Dein Bekannter denn Menschen hat tanzen sehen?
Der Kapitalismus ist von John Maynard Keynes bereits treffender charakterisiert worden, als das man diese Definition noch neu erfinden müsste:
“Der Kapitalismus basiert auf der merkwürdigen Ãœberzeugung, dass widerwärtige Menschen aus widerwärtigen Motiven irgendwie für das allgemeine Wohl sorgen werden.”
Schwer widerstehe ich hier der Versuchung, (bzw. ich tue es nicht) provokant wieder eine Brücke zu Richard Dawkins zu schlagen, der gesagt haben soll: “Alle Fragen über das Leben haben die gleiche Antwort (die allerdings nicht immer weiterhilft): Natürliche Selektion.”
Wenn das nämlich wahr wäre, hätten wir doch im Kapitalismus eigentlich die einzige naturgegebene Gesellschaftsform…
naja, das erstmal vorweg: natürlicher kontext bedeutet hier, das der gute behauptet, noch nie außerhalb von filmen, theatervorstellungen etc. menschen hat tanzen sehen. also keine situationen, in denen menschen tanzen, weil ihnen danach ist- parties, clubs, public-viewing-fußballexzesse o.ä. nicht, dass mensch grundsätzlich seine zeit mit solchen angelegenheiten verbringen müsste, aber NIE sowas doch für urban lebende junge erwachsene durchaus normales auch nur gesehen zu haben? zeugt vielleicht doch eher von ungünstigen vorlieben/einstellungen, all das obige so langfristig zu umschiffen.
keynes: ja, so ist das wohl. ich frage mich halt, wie sich dieses vertrauen so lange aufrecherhalten lässt… also, natürlich gibt’s da genügend gründe (fehlinformation etc.) für, aber dass so viele von so hehren beweggründen motivierte menschen da trotzdem noch drauf mitfahren…
und ja, da ist halt der ewig entnervende kreislauf: bringt doch alles nichts, läuft eh in zu großen maßstäben ab, um da hebel ansetzen zu können- kapitalismus ist halt das system, das den ganzen survival of the fittest – anspruch erfüllt, und wie schon erwähnt ist es ja auch das einzige, das zukunftsorientiert ist. interessant ist ja blos, dass es de facto auf ganz wenige gewinner und ganz viele verlierer rausläuft, jeder das weis (keynes ist ja jetzt auch keine person des öffentlichen geschehens mehr, von marxengelshegelmao und so fort mal ganz geschwiegen)
aber keine sau was dagegen tut. nachdem also irgendwann innnerhalb der letzten paar jahrhunderten sich “das volk” von der tyrannischen gottgegebenen obrikeit “befreit” hat, weil irgendwo scheinbar zu offensichtlich wurde, dass die das alles doch nicht so optimal zu regeln in der lage ist, könnte man ja erwarten, dass diese erkenntnis jetzt bezüglich eines total verkrampften wirtschaftssystems, das erneut die breite masse von weiten teilen des erfolges ausschließt, erneut bereit wäre, die dinge zu ändern.
passiert aber nicht- eben, das alte sytem ist scheinbar noch fitter als alle alternativen. hinreichend unfit wird es wahrscheinlich erst, wenn es anfängt die menschen offen und substanziell anzugreifen und v.a. eine manifeste angriffsfläche bietet (besagte privatarmeen zum beispiel). ein neues sytem kann sich natürlich erst in der anwendung als fit erweisen (eine mögliche erklärung für das scheitern besagter alter männer- ihre systemideen sind nie manifest geworden)
denn naturgegeben ist halt auch nur das, was gerade realität ist, eben, weil es sich halt durchsetzt. dementsprechend gibt es auch noch n weitere naturgegebene Gesellschaftsformen, deren zeit aber noch nicht gekommen ist.
Da fühle ich mich jetzt allerdings genötigt, fürs Protokoll kurz darauf hinzuweisen, dass natürliche Selektion als solche keinesfalls zwangsläufig einen (durch den Vergleich mit dem praktizierten Wirtschaftssystem nahegelegten) barbarischen Ausschlussprozess impliziert, dass weiterhin natürliche Selektion zwar ziemlich sicher ein wichtiger Grund für Moral im Allgemeinen ist, es aber töricht wäre, deshalb moralische Vorstellungen im Speziellen mittels natürlicher Selektion zu begründen, kurz: dass, was man nicht selten den “Sozialdarwinismus” heißt, bestenfalls mit einer sehr vulgären, übersimplifizierten Interpretation von Darwins Erkenntnissen in Einklang zu bringen ist, und dass ich es deshalb für unredlich halte, jemandem der wie Dawkins oder meine Wenigkeit der Meinung ist, dass so ziemlich alles was wir wahrzunehmen im Stande sind, durch eine Form natürlicher Selektion erklärbar sei, implizit irgendwelche vermeintlich daraus abzuleitenden Werturteile in den Mund zu legen.
Ich wollte Dawkins diese Werturteile auch gar nicht in den Mund legen, wohl aber darauf hinweisen, dass es naheliegt, dies zu tun. Die Annahme, das Wirkungsprinzip der natürlichen Selektion sei die alleinherrschende Erklärung für jegliche Interaktion biologischer Lebensformen auf diesem Planeten, lässt sich nämlich – mit einer nicht zu hohen Dosis Ignoranz und Böswilligkeit – leicht von der Person des Richard Dawkins (oder Charles Darwin) und somit von jeglicher Moralität, die dieser daraus für sich destilliert lösen, und neuen Schlussfolgerungen zuführen.
Mich erschreckt aber viel mehr etwas anderes: Das Prinzip des Kapitalismus und des damit zwangsläufig einhergehenden “Sozialdarwinismus” braucht überhaupt keinen theoretischen Ãœberbau, um zu funktionieren. So lange Geld existiert, so lange die Möglichkeit gegeben ist, dass ein Mensch mehr Geld besitzt als ein anderer, so lange werden die Menschen einander bescheißen, bestehlen und übervorteilen, egal wie stolz oder verdruckst das darum herum als Camouflage errichtete Gesellschaftssystem dazu steht.
Natürlich gibt es auch noch eine ganze Reihe anderer Gründe, warum die Menschheit nicht in friedlichem Einklang miteinander lebt, aber so lange wir der Meinung sind, der Wert menschlicher Arbeit ließe sich in Geld bemessen, so lange ordnen wir uns einer relativ primitiven Form (un-)natürlicher Auslese freiwillig unter. Und haben auch noch das Gefühl, gut damit zu fahren.
Die Frage ist: Sind wir primitiv, weil wir an diesem System festhalten, oder halten wir an diesen System fest, weil wir primitiv sind?
Mir ist leider trotzdem nicht ganz klar, worauf du hinauswillst: Dass die Annahme, natürliche Selektion sei die beste bekannte Erklärung für jegliche biologische Interaktion, falsch sein muss, weil man sie fehlinterpretieren kann? Oder dass sie zwar richtig sein mag, man das aber besser nicht so laut sagen sollte, weil irgendjemand sie fehlinterpretieren könnte?
Ich will eigentlich gar nicht auf einen bestimmten Punkt hinaus.
Ich bin über das Dawkins-Zitat nur gestolpert, weil es so absolut klingt. Vermutlich ist es in dem Zusammenhang, in dem er es gesagt hat, gar nicht einmal so radikal gemeint, aber ich finde es schon auffällig, dass in einer Zeit, die gerade als große Krise des Kapitalismus verschrien wird, jemand einen weltanschaulichen Feldzug führt, der ausgerechnet das Prinzip der Natürlichen Selektion zur einzigen gestalterischen Kraft der belebten Natur erklärt.
Letztlich war meine Frage beinahe so naiv gemeint, wie ich sie oben gestellt habe: Wenn das wirklich stimmt, gehen dann nicht jegliche Bestrebungen, eine Gesellschaft zu schaffen, in der alle Menschen gleich viel wert sind, im Grunde gegen unsere Natur? Oder haben wir tatsächlich Chancen, uns davon vollkommen zu emanzipieren?
Das wollte ich tatsächlich, wie man so schön sagt, “einfach Mal in den Raum stellen.”
Nachtrag:
Je länger ich darüber nachdenke, um so mehr frage ich mich, ob Dawkins nicht im Gegenteil sogar viel dazu beitragen könnte, dem “Sozialdarwinismus” entgegen zu wirken. Wenn wir unsere Verhaltensweisen tatsächlich als aus einem recht rigorosen Naturprinzip abgeleitet begreifen, könnte das nicht eher den Ansporn dazu geben, diese über Bord zu werfen und zu neuen Ufern aufzubrechen, einfach weil wir es durch unser hochentwickeltes Bewußtsein vielleicht KÖNNTEN?
Diese Diskussion hielte ich persönlich für angemessener (weil sie vielleicht auch weiter führen könnte), als das Gewese um seinen vermeintlichen Gegenbeweis für die Existenz Gottes. Seine Attacke auf die Religion scheint aber das einzige zu sein, was wirklich Breitenwirkung hat. Ich halte das aber nicht für das brennendste Thema, weil es doch entscheidender ist, wonach die Menschen tatsächlich handeln, und nicht, woran sie vorgeblich glauben. (Wenn nämlich die in Amerika so übermächtige Christenlobby das Christentum wirklich ernst nehmen würde, müsste sie gegen den Kapitalismus sein).
Ich sollte meinen Widerstand überwinden und doch eines seiner Bücher komplett lesen.
Ich glaube schon, dass er glaubt, dass wir letztendlich nicht die Sklaven unserer Gene sind. Ich denke, dass war teilweise was er mit der Memtheorie zu erklären versuchte. Dass also gewissermaßen eine zweite, viel schnellere “Evolution” stattfindet, in denen Gehirne die Replikatoren der Meme sind, im Gegensatz zu Körper als Replikatoren der Gene. Kurz gesagt kann ein Mem fast alles sein. Eine Idee, eine Information, eine Ideologie und es gibt verschiedene Gründe warum sich manche Meme besser durchsetzen als andere. Letztendlich zeugt das von einer Komplexität unserer Gehirne mit der die Genevolution gewissermaßen nicht “gerechnet” hat.
Persönlich bin ich jetzt nich son Fan der Memtheorie, weil der Membegriff noch etwas willkürlich definiert wird, aber ich glaube auch, dass irgendwo ein qualitativer Sprung in der Entwicklung unserer Gehirne passiert ist, der es uns ermöglicht, mit vollem Bewusstsein dem “Willen” unserer Gene zuwider zu handeln, welcher natürlich irgendwo z.B. in Form von Instinkten, etc. trotzdem noch in uns drin ist. (Wiederum sind ja auch nicht alle Instinkte schlecht.)
Zum Kapitalismus wollt ich nur noch sagen, dass ich persönlich Kapitalismus als alles was mit Geld oder einem vergleichbaren “Wert”träger zu tun hat, definiere. In diesem Sinne würde ich auch nicht sagen, dass Kapitalismus prinzipiell schlecht ist. Wenn man aber natürlich die Sache mehr im Sinne von Big Banks, Multis, WTO und dem ganzen Kram definiert (wobei – again: Problem der unscharfen Definition), würde ich mein Statement obern gerne verbessern. DIESES System könnte sich durchaus schon sehr bald ändern.
Auch ich würde Kapitalismus im weiteren Sinne als jedes System definieren, in dem konstruktive Beiträge zur Gesellschaft (Arbeit) nicht unmittelbar durch eine gesicherte soziale Stellung, sondern mittelbar mit Geld abgegolten werden. Und das halte ich für prinzipiell falsch.
Warum ich das tue sollte vielleicht einmal Gegenstand eines längeren Beitrags sein. Kurz gesagt, hat das Geldsystem für mich zwei ganz grundlegende Fehler: 1. Es bewertet nicht die Arbeit, die ein Mensch verrichtet, sondern nur deren Endergebnis. Dadurch beeinflußen die Befähigungen eines Menschen seinen gesellschaftlichen Wert stärker, als seine grundsätzliche Bereitschaft, etwas zur Gesellschaft beizutragen. 2. Geld hat ein Eigenleben, das unabhängig geworden ist von den Gegenwerten, die es eigentlich repräsentieren soll. Dadurch wird erst das Ungleichgewicht möglich, dass jemand mehr Geld besitzen kann, als wofür er in seinem Leben allein mit seiner Hände Arbeit als materiellen Gegenwert zu erschaffen im Stande wäre.
Jeder Sozialstaat, jedes gesellschaftliche Regelwerk, das wir uns seit der Aufhebung der mittelalterlichen Stände geschaffen haben, ist ein mehr oder weniger langlebiger Versuch, den fatalen Folgen dieser zwei Grundsatzfehler entgegenzuwirken.
Bei der Definition im engeren Sinne (Big Banks, Multis, etc.) würde ich Dir zustimmen: Das könnte, wenn wir Glück haben, bald durch etwas unwesentlich Besseres ersetzt werden.
Ich halte es in sofern prinzipiell nicht für schlecht, als dass ich finde, dass es durchaus Sinn macht, einen Wertmittler zu haben. Kapitalismus könnte z.B. so enstanden sein: Paar Dörfer, Markt, die Leute tauschen Zeug gegen Zeug. Jetzt macht es doch durchaus Sinn nicht jedesmal einen Sack Kartoffeln mit sich rumschleppen zu müssen, sondern stattdessen eben irgendwas geldartiges zu benutzen, schlicht aus organisatorischen und praktischen Gründen. Mehr noch: Davor waren möglicherweise die Kartoffeln “geldartig” in dem eben der “Wert” von Eseln, Samen, etc. primär zu Vergleichszwecken in Kartoffeln ausgedrückt wurde. Ich behaupte, dass solange wir Dingen und Leistungen unterschiedliche “Werte” zumessen, es auch immer eine Form der Geldes geben wird. Und ich kann mir eine Gesellschaft in der das überhaupt nicht der Fall ist, eigentlich nicht vorstellen, also in der wir sagen würden: Diese zwei Kartoffeln sind genausoviel wert wie das Pferd da.
Ich würde dir trotzdem zustimmen, dass jede Form des Geldes die sehr starke Tendenz hat, genau die zwei Nachteile, die du genannt hast, früher oder später zu entwickeln. Leider sehe ich (und ich weiß wie ärmlich und klischeehaft sich das anhört) keine funktionierende Alternative, zumindest im Bezug auf diesen “grundsätzlichen Kapitalismus”. Ich glaube(/hoffe) aber schon, dass rein theoretisch(!) eine soziale Gesellschaft diese beiden “Fehler” fast vollständig ausgleichen können müsste.
Es ist schon gut erklärbar, aus welchen praktischen Gesichtspunkten das Geld entstanden ist, aber in unserer heutigen Zeit könnten die locker alle wegfallen.
Das Problem ist ja schon der Gedanke, dem Pferd oder den Kartoffeln einen Vergleichswert zuzumessen. Anstatt darüber nachzudenken, mit wievielen Kartoffeln sich ein Pferd aufwiegen lässt, sollte folgender, simpler Grundsatz gelten: Die ARBEIT eines Menschen ist immer gleich viel Wert, egal ob er auf dem Acker Kartoffeln anbaut, oder auf dem Gutshof Pferde züchtet. Deswegen sollte jeder Kartoffelbauer auch das Recht haben, sich so viele Pferde wie er braucht in seinen Stall zu stellen, und jeder Pferdezüchter sollte das Recht haben, so viele Kartoffeln zu futtern, wie er Hunger hat.
Die einzige organisatorische Schwierigkeit sollte eigentlich nur im Verteilungsmechanismus bestehen, nicht in der Ermittlung der Tatsache, wer überhaupt schon genug gearbeitet hat, um sich das Recht auf die Früchte der Arbeit anderer zu erwerben.
Dieses Modell geht natürlich von zwei diskutablen Annahmen aus: 1. Dass wir Menschen (insgesamt gesehen) genug wirtschaftliche Kapazitäten haben, um uns komplett selbst mit allem Nötigen und Unnötigen versorgen zu können, und 2. dass Menschen auch dann dazu bereit sind, ordentliche Arbeit zu machen, wenn ihre Existenz auch ohne dies gesichert wäre. Beides halte ich persönlich für wahr.
Natürlich ist mein Modell bewußt radikal naiv gedacht. Aber ich glaube, ohne eine gesunde Portion Naivität kriegen wir diesen gordischen Knoten nicht zerhauen.
Und eben da bin ich eben um einiges pessimistischer. Angenommen jemand, sagen wir ein Wissenschaftler oder ein Mediziner, bestellt ein Gerät, dass er zu Untersuchungen braucht, das er aber nicht selber oder irgendjemand in seinem Umfeld herstellen kann. Glaubst du nicht, dass wer immer die Dinger ausliefert, zu diesem Zeitpunkt bereits ein leeres Lager hat, wenn er nichts verlangt? Ich habe einfach noch nicht soviel Vertrauen in die Menschheit (mich eingeschlossen). Meiner Vermutung nach wird das bestenfalls so aussehen, dass die Mehrheit einfach herumliegt und das Leben genießt, während eine kleine Minderheit aus ihrem sozialen Verantwortungsgefühl heraus sich den Arsch abackert, damit nicht alles vollständig zusammenbricht.
Wie gesagt, wir beziehen uns hier ja nur auf ein Szenario in dem nichts Geldartiges existiert und das kann ich mir einfach nicht vorstellen, auf jeden Fall nicht von heute auf morgen. Eine interessantere Frage wäre für mich: Gibt es einen Weg, wie wir uns in eine Gesellschaft verwandeln könnten, in der sich dies vorstellen lässt und wenn ja, wie.
In Deinem Beispiel mit dem medizinischen Gerät würdest Du ja davon ausgehen, dass jeder Idiot sich ein medizinisches Fachgerät nach Hause bestellt, einfach nur, weil es ihn nichts kostet, so dass dann die Lager leer stehen, wenn der Medizinier sich meldet, der es wirklich brauchen könnte.
Das glaube ich weniger. Bei anderen Luxusgütern ist schon vorstellbar, dass eine Nachfrage entstehen könnte, die die tatsächlichen Kapazitäten der Hersteller übersteigt (aus irgendeinem Grund fallen mir hier immer Segelyachten ein), aber generell glaube ich nicht, dass es von irgendeinem Produkt, das auch nur halbwegs von einem gehobenen Lebensstandart nicht wegzudenken ist, jemals nicht genug für alle Interessenten geben könnte.
Und ich glaube kaum, dass jeder Mensch einen eigenen Kernspintomographen bei sich im Hobbykeller stehen haben möchte.
Und Mal ganz ehrlich: Wieviele Menschen kennst Du, die ein erfülltes und glückliches Leben hätten, wenn sie nichts anderes tun würden, als herumgammeln?
Zudem muss es sicherlich eine Instanz geben, die sicher stellt, dass die nötige Arbeit getan wird, und dass jeder seinen Teil dazu beiträgt. Aber das sollte sich auf Organisatorisches beschränken, und nicht der Arbeit von Menschen unterschiedliche Werte beimessen.
Zu Deiner letzten Frage fällt mir das schon öfter von mir erwähnte Konzept des “Bedingungslosen Grundeinkommens” ein. Das wäre für mich generell ein Schritt in die richtige (Denk-) Richtung.
Wie gesagt, ich bin erstaunt über deinen Optimismus. Bereits jetzt gibt es ständig Engpässe in der Versorgung mit medizinischen und forschungsrelevanten Gerätschaften und Substanzen, manchmal sogar weltweit, wie jetzt gerade z.B. im Bezug auf medizinisch nutzbare radioaktive Isotope. Ich hätte übrigens gern ein Multiphotonenmikroskop, aber ich bin sicher andere können es besser gebrauchen. Und wer sagt denn, dass ich mein Zeug in MEINEN Hobbyraum stellen muss. Wir reden hier ja auch von der Abschaffung von Besitz im herkömlichen Sinne, wenn ich dich richtig verstanden habe.
Und wer sagt, dass man nur herumgammeln müsste, wenn man sich jede Freizeitbeschäftigung nur zu nehmen braucht. Ich weiß nicht, wieviele Menschen vollständig glücklich und erfüllt wären. Aber ich kenne genug, die glücklicher wären oder meinen, dass sie glücklicher wären, wenn sie nichts tun müssten (mich möglicherweise eingeschlossen).
Wie kann denn eine Instanz entscheiden, ob jeder seinen Teil beiträgt, wenn sie NICHT der Arbeit von Menschen unterschiedliche Werte beimisst? Und wie genau sollte das dann aussehen? Kann diese Instanz dann auch Arbeit zuteilen? Und was ist, wenn ich mit der mir zugeteilten Arbeit nicht zufrieden bin? Kann sie Leute zur Arbeit zwingen?
Ich habe halt das Gefühl, dieses Modell geht davon aus, dass sich alle verantwortlich verhalten. Es reicht aber aus, wenn ein paar sich vollkommen und vollständig unverantworlich verhalten, um es zu Fall zu bringen.
Interessante Grundsatzdiskussion jedenfalls. Lohnt vielleicht einen Extra-Eintrag.
Bedingungsloses Grundeinkommen find ich prinizipiell spitze, möglicherweise noch mit möglichst unbürokratischer Bedarfsorientierung.
Ich finde es ja immer lustig, wenn sich eine Diskussion völlig vom Ausgangspunkt wegbewegt. Und für einen eigenen Eintrag habe ich im Augenblick gar nicht die Nerven.
Versorgungsengpässe mit medizinischem Gerät ist jetzt kein Thema, mit dem ich mich auseinandergesetzt hätte, ich kann mir aber vorstellen, dass der Grund dafür eher darin liegt, dass die Kaufkraft derer, die es brauchen können, nicht groß genug ist, um den Industriezweig aufblühen zu lassen – sollte es tatsächlich daran liegen, dass gewisse Isotope nur in sehr geringen Mengen herstellbar sind, ist das ja dann kein Problem der Geldwirtschaft und wäre – so oder so – eher eine Frage der sinnvoll organisierten Verteilung. Und dann sollte doch in jedem Fall die Frage, wer es dringender benötigt, im Vordergrund stehen, und nicht, wer mehr dafür bezahlen kann.
Ich glaube ja tatsächlich, dass dieser ungeheuer hohe Wert, den wir unserer Freizeit beimessen, vor allem damit zu tun hat, dass wir alle die Tatsache, arbeiten zu müssen, als so bedrückend empfinden. Vom Standpunkt einer Gesellschaft aus gesehen, in der Arbeit lebensnotwendig ist, und “Selbstverwirklichung” etwas ist, was man sich in der Freizeit leisten können muss, kann man natürlich glauben, dass jeder Mensch, wenn er die Wahl hätte, nur noch Freizeitaktivitäten nachgehen würde.
Vielleicht gehe ich auch tatsächlich zu sehr von mir aus, aber ich glaube, dass sich in einer geldlosen oder geldunabhängigeren Gesellschaft dieses Problem ganz anders stellen würde. Wenn man mit jeder Arbeit gleich viel verdienen würde, würden viel mehr Menschen die Arbeit tun, die ihnen liegt, und die sie für sinnvoll halten, anstatt nur zu schreien: “Yippie, Freizeit!” Ich halte den Menschen ja tatsächlich für so gestrickt, dass er eigentlich eine Aufgabe möchte.
Natürlich kann man sagen: Dann werden vielleicht alle Filme drehen und Bücher schreiben, und keiner macht mehr die Müllabfuhr.
Gut: Aber eine Gesellschaft, die in der Lage ist, Atome zu spalten und die Herstellung eines Autos Robotern zu überlassen, wird es wohl auch hinbekommen, ein Müllverwertungssystem zu entwerfen, das menschenwürdig bedient werden kann. (Oder endlich einmal darüber nachdenken, dass so ein Problem an der Quelle, sprich bei den Herstellern gelöst werden muss, und nicht beim Verbraucher).
Ich glaube, wenn es keine verarmte Masse mehr gibt, die gezwungen ist, für ein erbärmliches Existenzsminimum jede Drecksarbeit zu machen, wird das noch viel mehr Anlass zu echtem Fortschritt sein, als wenn Gewinnmaximierung der einzie Anreiz ist.
Ich gebe allerdings zu, dass das der heikelste Punkt der ganzen Ãœberlegung ist: Wie gleicht man das (zu erwartende) Ungleichgewicht aus zwischen den Arbeiten, die nun einmal verrichtet werden müssen, und denen, für die sich die Menschen aus freien Stücken begeistern? Man könnte natürlich sagen: Wer sich für einen undankbaren Job meldet, muss dafür erheblich weniger Arbeitsstunden ableisten. Dann würde man zwar tatsächlich der Arbeit wieder unterschiedlichen Wert beimessen, allerdings würde der nur noch darin bestehen, wieviel Freizeit ein Mensch hat, und nicht, was er sich in dieser Freizeit überhaupt leisten kann.
Vor allem aber muss man sich darüber klar werden: Derzeit leben wir ebenfalls unter einer Instanz, die uns zur Arbeit zwingt. Nur ist diese Instanz erheblich ungerechter, weil sie diejenigen bevorzugt, deren Eltern reich sind, die studieren konnten, die das Glück hatten, Popstar zu werden, oder die skrupellos genug sind, ihr Glück auf dem Rücken anderer zu machen.
Ich glaube, wir sind eigentlich gar nicht weit auseinander. Aber ich habe das Gefühl, wir tanzen ein bisschen zwischen Kapitalismus im engeren und im weiteren Sinn hin und her. Die “Instanz”, auf die du ansprichst kommt halt meiner Meinung nach nicht zwangsläufig von Kapitalismus im engeren Sinn.
Vielleicht sollte ich auch mein “Statement” korrigieren, dass ich mir eine Welt ohne Geld überhaupt nicht vorstellen könnte. Mich nerven nur diese Leute, die den Eindruck erwecken, alles was man tun müsste, ist das Geld (/den Kapitalismus, wobei tunlichst vermieden wird genau zu sagen, welche Definition sie damit genau meinen) von heute auf morgen abzuschaffen und alles ist gut. Nur, wenn man das täte, bleiben die momentanen Machtstrukturen genauso bestehen und es würde sich schon bald ein neues, möglicherweise noch repressiveres und ungerechteres System entwickeln.
Ich denke, es geht darum einen Plan zu haben und eine Richtung in eine gerechtere Welt einzuschlagen und wenn am Ende völlige Kapitalismuslosigkeit funktioniert, wunderbar!
Ja, da stimme ich Dir zu.
Die aktuellen Strukturen sind natürlich zu komplex, um einfach mit einem Knall umgekrempelt zu werden. Das neue System muss wachsen, und Modelle wie eben das Grundeinkommen sind da schon der richtige Samen.
(Es wäre aber schon spannend, darüber nachzudenken, welche Machtstrukturen denn wirklich erhalten blieben, und welche nicht. Die Politik könnte zum Beispiel wesentlich freier agieren, wenn der Wille der Wähler plötzlich ein trifftigerer Grund für eine Entscheidung wäre, als der Wille der größten Parteispender…)
Mir kommt es nur darauf an, auch in Gedanken nicht beim Grundeinkommen stehen zu bleiben, sondern sich bewußt zu werden, dass das Geld nicht ein notwendiges Ãœbel mit kleinen Fehlern, sondern ein unnötiges Ãœbel mit grundsätzlichen Fehlern ist.
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