Heumann feiert Geburtstag


Sims Alabim; 2009-05-03

Heumann hatte Geburtstag, und er würde die Doors auflegen.

Weitere Gedanken hatte er sich über den Verlauf des Tages nicht gemacht, wurde ihm bewusst, als nach und nach die ersten Gäste erschienen. Er hatte im Garten seiner Eltern ein Partyzelt aufstellen lassen, es war mit einer reichhaltigen Kuchenplatte bestückt, später am Abend würde es Grillware geben, Musik natürlich und Tanz und reichlich zu trinken,  aber er hatte sich nicht um eine nähere Auswahl der Musik gekümmert, es war ihm egal, früher oder später würde ein paar seiner Freunde, wie sie es immer taten, dieses Amt mehr oder weniger an sich reißen, ihren iPod mit der Anlage verbinden und das laufen lassen, was ihrer Meinung nach die beste Playlist für den Abend war. Heumann kümmerte das nicht, er war sogar zufrieden, dass ihm jemand diese Aufgabe abnahm, so lange er an einem bestimmten Punkt des Abends dazu kommen würde, die Doors aufzulegen. „The End“.

Die ersten Gäste waren die Paare mit Kindern. Für sie war es natürlich bequemer, am Nachmittag zu kommen. Heumann hatte vollstes Verständnis dafür. Die Kinder würden schreiend und tobend durch den Garten rennen, mindestens zwei davon würden in eine handfeste Auseinandersetzung geraten, die dazugehörigen Eltern würden, weil sie einander gut verstanden, nicht mehr unternehmen als einen halbherzigen Versuch, den Streit zu schlichten. Die Jüngsten würden in ihren Kinderwagen schlummern, aufwachen, ein hustendes, quäkendes Baby-Heulen von sich geben und von ihren Müttern in einer stillen Ecke des Hauses oder des Gartens, zum Beispiel hinten bei der alten Kinderschaukel, die Brust bekommen. Heumann ertappt sich dabei, wie er einer alten Schulfreundin, die soeben einen ikeagrünen Kinderwagen vor sich herschiebend das Grundstück betreten hat, eine Sekunde zu lange auf die voluminöse Brust starrt.

Heumann ist derzeit Single. Heumann lebt derzeit nicht in einer Beziehung. Heumann hat seine Wohnung derzeit für sich allein. Heumann wird derzeit per Hand betrieben. Heumann wird 30, und wenn er sieht, wie all seine Schulkameraden ihr Privatleben zur Kleinfamilie ausgebaut haben, spürt er einen Stachel. Dieser Stachel wird nicht verschwinden, wenn die Elternpaare nach dem Genuss mehrere Portionen Grillfleisch sehr schnell erklären werden, dass die Kleinen nun ins Bett müssten, und sie selbst seien es ja nun leider auch nicht mehr gewohnt, und nach 22 Uhr fallen ihnen gerne schon Mal die Augen zu. Heumann wird sich dann einreden, wie frei er doch ist, dass ihm die Augen noch nicht zufallen, dass er noch bis in die Puppen tanzen wird auf seinem Geburtstag, mit all seinen Freunden. Heumann fragt sich, ob er warten soll, bis all die Eltern mit ihren Kindern fort sind, ehe er die Doors auflegt.

This is the end…

Heumann macht sich nichts vor. Er weiß, dass auch die kinderlosen Gäste gegen Mitternacht verschwinden werden. Die meisten von ihnen haben feste Freundinnen, was er ihnen neidet, oder feste Freunde, die er beneidet, und die werden entweder mit dabei sein und langsam an der Seite ihres Lebensabschnittsgefährten müde und quengelig werden, nicht anders als die Kinder, oder sie werden zuhause warten und gesagt haben „wenn du vor ein Uhr heimkommst bin ich noch wach”, und seine Freunde werden diese Zeichen zu deuten gewusst haben, und weil das Grundstück ja doch ein wenig außerhalb liegt und der Weg nach Hause weit ist, werden die Meisten dem subtil genervten Blick ihrer Partner irgendwann nachgeben und „es dann Mal packen.” Ãœbrig bleiben werden ein paar Hartgesottene, die Verwandtschaft, die sowieso hier übernachtet, und Andrea von der Arbeit, mit der Heumann nichts anfangen kann.

Es ist ein herrlicher Tag, die Sonne scheint, alle Gäste, die sich gerade erst kennengelernt oder einander schon lange nicht mehr gesehen haben, können Gesprächslücken mit der Feststellung füllen, dass man schon großes Glück habe mit dem Wetter. Die Eltern müssen ihre Kinder ermahnen, die Kuchenstücke nicht einfach in sich hinein zu schaufeln, sondern Obacht zu geben wegen der Wespen. Sie beschreiben ihren Sprösslingen den qualvollen Tod, den man erleidet, wenn einem eine Wespe von innen in den Hals gestochen hat. Der ikeagrüne Kinderwagen steht leer, und Heumann muss seinen Drang überwinden, Ausschau nach der Besitzerin zu halten. Im Geiste sieht er sie hinten im Garten auf der Kinderschaukel sitzen, den tiefen Ausschnitt des Sommerkleides so weit nach unten gezogen, dass sie ihre mächtige, runde Brust herauspressen kann, um den kleinen Vampir daran nuckeln zu lassen.

Das Zelt füllt sich mit Gästen. Es ist etwas zu heiß darin und die weißen Seitenwände des Zeltes riechen nach Plastikplane. Später am Abend wird es kühler werden und dann wird man froh sein über das Zelt. Heumann stellt einander die Gäste vor. Alte Schulkameraden, entfernte Verwandte, Urlaubsbekanntschaften, Arbeitskollegen, Freunde von Früher, ein paar Verflossene, und ein paar, die es nicht einmal zu Verflossenen gebracht haben (was nicht daran liegt, dass Heumann es nicht versucht hätte, oh nein), alle sind sie gekommen. Sogar sein alter Mathematiklehrer ist da. Und fast seine ganze Abiturklasse. Das Abitur jährt sich zum zehnten Mal in diesem Sommer, und da spart man sich die mühevolle Organisation eines Klassentreffens, wenn einfach alle zu Heumanns Geburtstag kommen.  Die meisten von ihnen werden dieses Jahr ebenfalls 30 oder sind es schon geworden. Von nicht einmal einem Viertel hat Heumann eine Einladung bekommen. Ihn wundert das nicht. Die anderen haben vermutlich auch nicht so groß gefeiert, denkt er sich.

Ein Windhauch fegt durch das Zelt und lässt einen Spätsommergeruch hindurchwehen, der eigentlich nicht hierher gehört. Erst sehr viel später an diesem ereignisreichen Abend wird Heumann auffallen, dass es nach gemähtem Gras gerochen hat, das zum Trocknen auf den Feldern liegt, nach dem Staub abgeernteter Getreidefelder und dem gesunden Schweiß eines harten Arbeitstages der in den roten Strahlen eines brennenden Sonnenuntergangs trocknet. Dabei ist es gerade erst Juni. Heumann blickt unwillkürlich auf und sieht einen Cowboy im Eingang des Zeltes stehen. Der hereinwehende Staub reduziert seine Gestalt auf eine graue Silhouette im Gegenlicht. Heumann sieht den breitkrempigen Hut, den Umriss des langen Staubmantels, möglicherweise sogar die schweren Revolver an den Hüften des Mannes und wundert sich nicht einmal.  Eine Schulfreundin mit Glutamatunverträglichkeit und Lactoseallergie hat ihren eigenen Kuchen mitgebracht, und fragt Heumann, ob er ein Stück probieren möchte. Bis Heumann Nein gesagt hat, ist der Revolvermann aus seinem Bewusstsein verschwunden.

Das Kuchenbuffet schrumpft zusammen, die Anzahl der Gäste erreicht nach und nach den zu erwartenden Höhepunkt, das entscheidende Zeitfenster, in dem es spät genug ist, so dass auch diejenigen, die heute noch Arbeiten mussten, langsam eintreffen, und früh genug, so dass auch die Eltern noch bleiben können. Heumann denkt darüber nach, den Grill anzuwerfen, er spürt die unausgesprochene, in Zelt und Garten schwebende Erwartung seiner Gäste. Heumann beginnt also damit. Er muss zwanzig Minuten mit den Anzündern und den Grillkohle herummurksen, bis ihm endlich jemand hilft.

Heumann verschweigt sich selbst, dass das Feuer im Moment des Aufflammens nicht wie ein Grill riecht. Es riecht nach Stahl und Funkenschlag, und er bildet sich kurz ein, das Klirren von Waffen zu hören, und das Aufstöhnen der Stahlträger eines Turmes, der inmitten eines Flammenmeeres mit der Würde eines Sterbenden in sich zusammenfällt.

Heumann hat sein Hemd aufgeknöpft, weil es ihm heiß wurde, auch wenn man dafür jetzt seinen Bauchansatz durch das T-Shirt hindurch mehr als deutlich sieht. Heumann muss seit einigen Jahren Brille tragen, zwei Geheimratsecken fressen sich unbarmherzig durch sein Haupthaar  zur Schädelmitte durch, er hat ein Schweißproblem unter den Achseln und im Schritt, und alle fünf bis sechs Wochen einen komischen Schmerz in der Hüfte, wenn er sich beim Schuheanziehen ungeschickt bückt. Er kann dann immer einen ganzen Tag nur unter Schmerzen die Sitzposition ändern. Zwar ist das kein Trost, doch wenn er sich umschaut unter seinen Klassenkameraden, dann sieht er, dass er nicht der einzige ist, der Verschleißerscheinungen zeigt. Doch Heumann bildet sich ein, dass er weniger Zeit damit verbringen würde, über seinen Bauch und seine beginnende Glatze nachzudenken, wenn er auch schon Kinder hätte, eine Ehefrau, ein verlässliches Einkommen und eine Familienkutsche. Doch Heumann hat irgendwie das Gefühl, er hat den Sprung vom Abitur zur Midlifecrisis direkt unternommen, und die kurze Zeit dazwischen mit Herumhängen zugebracht, anstatt damit, sich wie alle anderen ein Leben aufzubauen.  Auf der Startseite seines Internetanbieters hat Heumann neulich gelesen, dass Männer den Gipfel ihrer sexuellen Leistungsfähigkeit noch vor Mitte Zwanzig überschreiten. Wenn das der Gipfel war... hat Heumann dabei unwillkürlich denken müssen, und dieser Gedanke lässt ihn seither nicht mehr in Ruhe.

This is the end, beautiful friend.

Wo sind sie hin, die zehn Jahre? fragt sich Heumann beim Anblick all der Menschen von früher. Eben noch große Träume gehabt, den Schulabschluss in der Tasche, das Gefühl, die Welt liegt einem zu Füßen und das Leben geht jetzt los. Unwillkürlich sieht Heumann einen breiten Highway vor sich, im Licht des Sonnenuntergangs schimmernd, die Wipfel mächtiger Koniferen wiegen sich hinter den Schallschutzmauern im warmen Wind, die Straße vor ihm frei bis zum Horizont, die patinierten Straßenschilder tragen glanzvolle Namen wie Panama oder Kalkutta, er selbst in einem Straßenkreuzer mit offenem Verdeck unterwegs, den Fahrtwind um die Ohren, im Rausch der Geschwindigkeit, doch immer mit einem Auge am Straßenrand, um Ausschau nach Trampern zu halten. Jetzt fragt sich Heumann, ob er irgendwo die entscheidende Ausfahrt verpasst hat.  Die glanzvollen Namen auf den Straßenschildern sind durchgestrichen, die Schallschutzmauern so hoch, dass er dahinter nichts mehr erkennen kann, die Lichter der Trucks auf der entgegenkommenden Fahrspur blenden ihn, und als er hinübersieht, sieht er einen Treck von Leichenwagen, und ihn beschleicht das Gefühl, dass es nur noch einen Ort gibt, zu dem der Highway führt und nur eine Art, von dort wieder zurück auf „Los” zu kommen.

Natürlich hat er viel getan in den zehn Jahren. Den Dienst am Vaterland absolviert. Auf einen Studienplatz gewartet. Gute Noten auf seine Diplomarbeiten bekommen. Eine Stellung gesucht, eine andere bekommen, unzufrieden gewesen, wieder gekündigt, sich über Wasser gehalten, Angebote eingeholt, sich vorgenommen, nur einen Job anzunehmen, der ihn zufriedenstellt, mit den Angeboten jongliert, keine Entscheidung treffen können, neue Bewerbungen geschrieben. In dieser Zeit haben andere Weltreisen unternommen, die große Liebe ihres Lebens kennengelernt und im Trubel der Zeit wieder verloren, Kinder in die Welt gesetzt und als junge Eltern eine Karriere begonnen, ein Haus gekauft und renoviert, ihre Alben in einem Tonstudio in London aufgenommen. Und er? Er hat es nicht einmal zu einer Stammkneipe in seiner eigenen Stadt gebracht und feiert seinen dreißigsten Geburtstag im Garten seiner Eltern mit einem nutzlosen Diplom in der Tasche. Die nächsten Zehn Jahre werden noch schneller vergehen, das weiß er jetzt, die Zeit wird noch knapper sein, um irgendwas gebacken zu kriegen, und dann wird er seinen Vierzigsten feiern und jeder Zug, auf den er bis dahin nicht aufgesprungen sein wird, wird hoffnungslos abgefahren sein.

Heumann weiß, dass es nur in Kinotrailern niemals zu spät ist für eine zweite Chance.

This is the end, my only friend.

Der Grill läuft jetzt und der Geruch von marinierten Rinderhüftsteaks und Putenbrust wabert durch den Garten. Die Stimmung hebt sich. Der Geruch kündigt den Gästen den entscheidenden, und wenn man ihn nur lange genug hinzieht, finalen Programmpunkt des Tages an: Fressen. Plötzlich wird Heumann klar, dass auch die Gäste wissen, dass nicht mehr kommen wird. Es wird keine Reden geben. Niemand wird sich dazu aufschwingen, eine Lobrede auf Heumann, den besten Freund aller Freunde, den bewundernswertesten und liebenswürdigsten aller Kollegen, den großartigsten aller Menschen zu halten. Niemand wird aus den zahlreichen spannenden Geschehnissen seiner Jugendjahre eine Comedyeinlage gestrickt haben.  Niemand wird ihn mit einem sensationellen Geschenk überraschen, für das alle anwesenden zusammengelegt haben, an dem seit einem halben Jahr heimlich geplant und eingetütet worden ist. Niemand ist unter den Anwesenden, der es nicht erwarten kann, endlich Heumanns Gesicht zu sehen, wenn er sein Geschenk bekommt. Es gibt keine Verlobung zu verkünden, keine Beförderung, keinen Pulitzerpreis, keinen Jahrhundertvertrag, geschweige denn die Tatsache, dass ein neuer Erdenbürger sich mit einem blau statt violett verfärbten Teststreifen für das nächste Frühjahr angekündigt hätte. Man wird die Knochenstücke und Fettschwarten von den Papptellern in den Mülleimer kratzen, sich eine zweite Portion auftun, darüber streiten, wer jetzt nach Hause fährt und wer noch einen Wein trinkt, und den Abend mit sentimentalen Erinnerungen beschließen während man sich im Takt der alten Lieder wiegt. Es wird Zeit, die Doors aufzulegen, denkt Heumann.

Bevor er dazu kommt, fällt ihm der Cowboy wieder auf. Erst, als er ihn zum zweiten Mal bemerkt, wird ihm überhaupt bewusst, dass er ihn schon einmal gesehen hat. Jetzt fragt sich Heumann, warum er sich nicht viel früher über seine Erscheinung gewundert hat. Sitzt da zwischen den Sommerkleidern und beigen Pollundern seiner Gäste in seinem staubigen Mantel, verbirgt sein schartiges Gesicht unter der Hutkrempe – von seinem Platz hinter dem Grill aus kann Heumann nur ein kantiges, von grauen Bartstoppeln überdecktes Kinn sehen – redet mit keinem der Anwesenden, isst nichts, trinkt nichts, starrt nur unter dem Schatten der Krempe unentwegt in Heumanns Richtung. Wer ist dieser Mann? Heumann weiß, dass er ihn nicht kennt, niemals eingeladen hat, und doch spürt er, dass dieser Mann in seiner ganzen Fremdartigkeit hierher gehört.

Heumann muss sich aber erst mit einer ganzen Flasche Bier den Mut antrinken, den Cowboy anzusprechen. Er stellt sich vor ihn hin, der Cowboy sieht langsam zu ihm auf, der Blick der stahlgrauen Augen scheint bis hinein in seine Seele zu gehen, und Heumann hat vergessen, wie er das Gespräch eigentlich beginnen wollte.

„Ich habe nicht viel Zeit, deswegen will ich gleich zur Sache kommen”, sagt der Cowboy. „Erinnerst du dich an den Eid, den du vor Jahren geschworen hast?” Heumann spürt, wie ihm die Hitze ins Gesicht steigt, obwohl er sich nicht erinnern kann. Weil er sich nicht erinnern kann. „Du hast ihn geschworen, nachdem du den Stein geworfen hast,” erinnert ihn der Revolvermann, der ihn bis in den hintersten Winkel seiner Seele zu kennen scheint, und Heumann erinnert sich schlagartig.

Heumann hatte sich, er war noch keine zehn Jahre alt, vom Schaumberger Klausi überreden lassen, einen Stein von einer Autobahnbrücke zu werfen. Das war so dumm gewesen, dumm, dumm, dumm, dumm, dumm! Der Stein hatte das Auto knapp verfehlt, aber der Fahrer hatte trotzdem das Steuer verrissen, war ins Schleudern gekommen, und gegen die Leitplanke geknallt. Der laute, metallische Krach hatte Heumann über Monate bis in die Träume verfolgt. Heumann war weggerannt in den Wald, wusste deshalb nicht, ob den Menschen im Auto etwas passiert war. In seiner Verzweiflung hatte Heumann, Rotz und Wasser heulend, vor dem mit einem Gitter verschlossenen Eingang einer kleinen Waldkapelle Gott und dem Jesuskind und der Mutter Maria versprochen…

… alles zu tun, was sie von ihm verlangen, wenn sie nur machen, dass er keinen umgebracht hat!

Wie die Erinnerung an diesen Vorfall, war auch die Erinnerung an sein Versprechen, überhaupt die Erinnerung daran, dass er als Kind mit Gott zu reden versucht hatte, langsam eingeschlafen und im Nebel versunken.

„Es wird Zeit”, sagt der Revolvermann jetzt. „Wir haben in unserem letzten Gefecht jemanden verloren und brauchen noch einen Mann. Jemanden, der noch eine Schuld abzutragen und eine Mission zu erfüllen hat.”

Jetzt fallen Heumann auch die anderen Krieger auf. Der Zweite ist jünger und sein Strohhut könnte fast als modischer Sommerhut durchgehen, wäre er nicht so zerzaust an den Rändern. Er trägt einen mexikanischen Poncho und jetzt sieht Heumann die schartige, angerostete Klinge eines Säbels darunter hervorblitzen, den der Mann sich auf den Rücken geschnallt hat.

Die Frau sitzt hinten im Garten, auf der alten Kinderschaukel, wippt leicht hin und her, die Füße, die in geschnürten Lederstiefeln stecken, in die Erde gestemmt. Sie trägt einen schwarzen Ledermantel, dessen Saum durch das zertretene Gras streicht, und ihre Sonnenbrille ist groß genug, um ihre Augen, aber zu klein, um die Narbe zu verdecken, die sich von ihrer rechten Wange aus vertikal nach oben zieht und ihre Augenbraue beinahe durchtrennt. Heumann vermutet, dass die Brille ein Glasauge verbergen soll, möglicherweise sogar eine leere Augenhöhle. Merkwürdigerweise findet Heumann diese Vorstellung nicht einmal abstoßend, im Gegenteil. Für einen kurzen Moment sieht er eine Frau mit einer Augenklappe neben sich auf dem Beifahrersitz des Straßenkreuzers sitzen und fragt sich, ob das nicht seine Gefährtin werden könnte.

Nur der Junge ist ihm etwas unheimlich. Obwohl nichts Auffälliges an seiner Kleidung zu erkennen ist, weiß Heumann sofort, dass der Junge zu ihnen gehört, auch wenn er zu wissen glaubt, dass der Revolvermann und die Frau in Leder nicht die Eltern des Jungen sind. Der Junge ist älter als die anderen Kinder, aber das scheint nicht der Grund zu sein, warum er abseits steht, regungslos neben dem Sandkasten (den Heumann extra hat mit Sand befüllen lassen, damit die Kleinen einen Platz zum Spielen haben), die Hände in den Taschen, ein kleines Tierchen auf den Schultern, das ein Frettchen sein könnte, auch wenn sein Blick die Klugheit und die Treue eines Hundes verrät. Der Knabe und das Frettchen sind die einzigen, die nicht zu ihm, Heumann, herübersehen. Der Junge lässt seinen Blick langsam über die Gäste schweifen.

Und dann, von einem Augenblick auf den anderen, kann Heumann sehen, was der Junge sieht, und ihm läuft ein Schauer über den Rücken. Der weiße Sand des Sandkastens ist blutgetränkt. Ein Kind, gerade alt genug, um Laufen zu können, liegt mit dem Gesicht nach unten im Sand, spuckt zuckend Blutklumpen aus, die von Sandkörnern gespickt sind, in seinem Rücken klafft ein Loch, so groß und tief, dass Heumann beinahe erwartet, die weißen Rippen des Brustkorbes darin erkennen zu können. Das Kind ist noch am Leben, deswegen ist es Heumann vermutlich überhaupt als erstes aufgefallen. Die anderen Gäste sind alle tot. Sie liegen kreuz und quer im Garten, häufen sich auf den zusammengebrochenen Bierbänken im Zelt, sind teilweise von der heruntergerissenen Zeltwand wie von einem Leichentuch mit Fenstern aus Plastikfolie bedeckt, liegen ausgestreckt im Gras wie erlegtes Wild, einer hat im Fallen den Grill umgerissen und der heiße Rost und die glühenden Kohlen brennen sich langsam aber stetig in das Fleisch seiner Brust und seiner Wangen. Einschusslöcher groß wie Haifischbisse sind auf den Leichen zu sehen, bei seiner alten Schulfreundin mitten auf der Brust wie eine klaffende Erweiterung des Bauchnabels, wie ein aufgerissener, staunender Mund, und ihre beiden großen Brüste darüber sind die fassungslos glotzenden Augen.

This is the end, beautiful friend.

Die Vision verschwindet, so plötzlich wie sie gekommen ist, und alles ist wieder in Ordnung. Die Kinder schreien, das Grillfleisch duftet, die Gäste lachen und scherzen, irgendwo fällt eine Flasche Bier um und ergießt ihren schäumenden Inhalt über die Tischdecke aus Papier. Doch Heumann sieht jetzt keine lebendigen Menschen mehr. Er sieht Tote, die nur noch nicht wissen, dass es um sie geschehen ist. Und die den Revolvermann nicht bemerken, den Mexikaner nicht, nicht den Jungen und das Frettchen, nicht die Frau im Ledermantel und nicht den letzten der Fremden, der an einen Baum gelehnt zu Heumann hinüber lächelt. Er kommt Heumann vage bekannt vor, wie ihm auch die anderen bekannt vorkommen, obwohl er weiß, dass er ihnen noch nie zuvor begegnet ist. Er trägt einen schwarzen Mantel, der am Ellenbogen aufgerissen ist, seine Hand ist bandagiert, einen zweiten Verband trägt er auf der Stirn, und in der Hand hält er einen Koffer, einen dreieckigen Koffer mit einem Symbol darauf, das aussieht, wie ein durchgestrichenes Unendlichkeitszeichen.

Die Fremden sind nur für ihn hier, das ist keine Frage. Sonst hätte man ihnen längst einen Teller mit Kuchen hingestellt oder eines der Schweinemedaillons abgegeben, hätte man die Frau gebeten, die Schaukel für eines der Kinder frei zu machen, sich erkundigt, ob das Frettchen nicht bissig sei, sich über den Anblick der zur Schau getragenen Waffen empört, über die altmodischen Revolver, den schartigen Säbel, das Maschinengewehr, das der Mann im schwarzen Mantel in seiner Bandagierten Hand hält wie andere Leute einen Aktenkoffer. Man hätte die Fremden darauf hingewiesen, dass man seit dem „elften September” doch sehr darauf achte, dass die Kinder solche Spielsachen gar nicht erst zu sehen bekämen. Aber dergleichen kann Heumann nicht beobachten, seine Gäste benehmen sich, als wären die Fremden Luft für sie, und vermutlich, denkt Heumann, sind sie das auch.

Er hat diesen Gedanken gerade zu denken bekommen, als sich eine schwere Hand auf seine Schulter legt. Heumann dreht sich um, und weiß doch schon, was er sehen wird: Die stahlblauen Augen des Cowboys, der jetzt hinter ihm steht, und ein gutes Stück größer ist als Heumann, so dass dieser ihm ins Gesicht blicken kann, ohne dass der Revolvermann den Hut in den Nacken schieben müsste.

„So wie ich das sehe, Kumpel, bleiben dir zwei Möglichkeiten.”

Die Art, wie der Revolvermann „Kumpel” ausspricht hat nichts Herablassendes, sondern lässt Heumann sofort an gemeinsam ausgestandene Feuergefechte denken, an gemeinsam durchquertes Ödland, an ihre Hände, die einander an den Gelenken umfassen, damit der eine den anderen auf einen anfahrenden Güterzug ziehen kann. Er weiß jetzt, dass er und diese Menschen auf denselben Highway gehören, auch wenn der Straßenkreuzer längst liegengeblieben ist, die Schilder mit den klangvollen Namen von Rost zerfressen und mit Graffiti übersprüht sind, die ein durchgestrichenes Unendlichkeitszeichen zeigen. Der Asphalt ist alt und brüchig, von ausgeschlachteten Fahrzeugen wie von Leichen übersät, gewaltige Löcher die wie Bombenkrater aussehen, säumen den Weg, doch an manchen Stellen sind die Lärmschutzwände zerbröckelt und geben den Blick frei in tiefe, immergrünende Wälder.

„Du kannst dich uns anschließen”, sagt der Revolvermann, „oder dein Weg wird hier enden.”

Heumann, der das anstehende Massaker gesehen hat, wir für einen Moment schummerig, als er begreift, wie die Worte des Cowboys gemeint sind. Er und seine Gefährten sind nicht hier, um das Blutbad zu verhindern, denkt er. Sie sind nur hier, um einen einzigen Menschen davor zu bewahren. Ihn, Heumann. Er kann ein Gefühl des Stolzes nicht unterdrücken, doch gleichzeitig röten sich seine Wangen vor Empörung.

„Was wird hier geschehen?” fragt er.

„In irgend einer anderen Zeit, in irgendeinem anderen Leben, musst du dir mächtige Feinde gemacht haben.”  Es ist der Mann im schwarzen Mantel, der das sagt, und er reibt sich dabei die Wunde auf seiner Stirn, die unter dem Verband zu jucken scheint. „Du hast jemanden verärgert, der genug Geduld besitzt und genug Bösartigkeit, um dir 30 Jahre Zeit zu geben, genug Freunde für ein ordentliches Schlachtfest zu finden. Die Menschen, die heute hier sterben sollen, sterben nur aus einem einzigen Grund: Weil sie dich gekannt haben.”

Heumann versucht, sich an irgendeine andere Zeit und an irgendein anderes Leben zu erinnern, doch der Versuch scheitert. Da ist zwar der Highway, da sind Felsenpaläste in mondbeschienenen Ebenen, da ist ein Schiff im Hafen von Kalkutta, dessen Motoren schon laufen und dessen Gangway nur noch auf ihn wartet, da ist der brütendheiße Hauch einer Wüste, die kein Leben mehr zulässt, doch das alles liegt in der Zukunft, das alles ist der Weg, den die Fremden mit sich gebracht haben.

„Wer ist es?” fragt Heumann und seine Stimme zittert. „Wen habe ich mir zum Feind gemacht?”

„Jeder von uns kennt ihn unter einem anderen Namen. Es ist derselbe, der mir das Auge genommen hat, unserem jungen Freund hier seine Eltern, und den anderen Beiden…” Die Frau mit der Sonnenbrille spricht den Satz nicht mehr zu Ende. Sie kann dem Revolvermann auf einmal nicht mehr in die Augen sehen.

„Eines Tages, am Ende unserer Reise, werden wir ihm gegenüberstehen”, sagt der Revolvermann. „Doch bis dahin liegt noch viel Weg vor uns, und du wirst nicht der einzige sein, den wir bis dahin in unsere Gruppe aufnehmen.” „Und vielleicht nicht der einzige, der es nicht bis zum Ende des Weges schaffen wird”, ergänzt der Mann mit dem Stirnverband.

„Aber warum bleiben wir nicht hier und kämpfen?” fragt Heumann. Für einen Augenblick sieht er sich Seite an Seite mit seinen neuen Gefährten. Sie haben die Frauen und Kinder ins Haus getrieben, aus den Bierbänken Barrikaden errichtet, hinter denen sie sich nun im Kugelhagel ducken, Schulter an Schulter ihre Waffen nachladen, und dann den Donner zu den Angreifern zurückwerfen. Er sieht Holzsplitter durch die Luft fliegen als die Bierbänke, die Kinderschaukel, der Sandkasten, der Stamm der Buche, an der die Kinderschaukel hängt, von Kugeln zersiebt werden, doch er sieht sich und seine Gefährten inmitten der pfeifenden Geschosse aufrecht und voller Todesverachtung stehen und seine unschuldigen Geburtstagsgäste bis zum letzten Atemzug verteidigen. Doch etwas stimmt nicht mit diesem Bild. Es ist brüchig, und etwas lauert unter seiner Oberfläche.

„Wir müssen gehen”, sagt der Junge, nicht an ihn sondern nur an den Cowboy gewandt. „Es ist Zeit.”

Heumann will nicht gehen, auch wenn er sich nach dem Highway zu sehnen beginnt. Er will zuerst den Klang von Schüssen und Donner hören, seine Feuertaufe bestehen, und anschließend zusehen, wie seine Gäste heil und unverletzt in ihren geleasten Autos nach Hause fahren. Noch einmal beschwört er dieses Bild herauf, dieses falsche Bild, von ihm selbst im Kugelhagel, mit einer Pumpgun in der Hand, und da zerreißt der Vorhang, die Schatten fallen in das Bild, und Heumann begreift, begreift, wie sehr der unsichtbare Feind, der schwarze Magier aus den Büchern seiner Kindheit, der Herrscher des dunklen Palastes, ihn eigentlich in der Hand hat.

Einen Augenblick lang kann er die Tränen nicht zurückhalten. Dann, als ihm der Revolvermann noch einmal die Hand auf die Schulter legt, versteht Heumann, dass alles gut ist. Dass der Revolvermann und seine Gefährten doch gekommen sind, um jeden einzelnen seiner Partygäste zu retten, wahrhaftig jeden einzelnen. Und dass das nur gehen wird, wenn er mit ihnen kommt.

„Sei froh, dass wir diesmal rechtzeitig gekommen sind. Seit Callahan bei uns ist, verstehen wir die Warnungen oft früh genug”, sagt die Frau und lächelt ihm zu.  Dieses Lächeln! Heumanns Blick kann nicht anders, als die Gestalt abzuschätzen, die sich unter dem Leder abzeichnet, die Beine, die Hüften, den Busen…

„Drei Dinge kannst Du mitnehmen”, fährt der Revolvermann fort. „Ein Geschenk deiner Mutter, ein Geschenk deines Vaters – und deine Waffe. Wir packen so lange ein paar Vorräte ein. Unser Weg wird lang und nur selten geraten wir an üppig gedeckte Tische.”

Heumann braucht nicht lange, um seine Sachen zu packen. Das Medaillon, das ihm seine Mutter einmal geschenkt hat, und das angeblich in Lourdes geweiht worden ist, liegt in der Schublade seines Schreibtisches. Er hat von seinem Segen in den letzten zehn Jahren nicht viel mitbekommen, doch er spürt, dass er ihn jetzt bald brauchen wird.

Aus dem Kleiderschrank holt er seine erste schwarze Krawatte. Sein Vater hat sie ihm zu einem Anlass geschenkt, an den er sich nicht einmal mehr erinnert. Aber er weiß noch, wie sein Vater sie ihm umgebunden hat, und er konnte dabei sein Rasierwasser riechen.

Er stellt sich vor den Spiegel im Flur und bindet sich die Krawatte um. Er weiß, dort, wo er hingeht, wird sie fehl am Platz sein, genauso wie der Staubmantel des Revolvermannes, die Lederstiefel der Frau, das Frettchen des Jungen und der dreieckige Koffer in den Händen des lädierten Kriegers. Ein Grund mehr, sie zu tragen.

Dann holt er die Waffe. Er hat die Pumpgun in seinem Bettkasten versteckt, dort wo er mit dreizehn Jahren sein erstes Pornoheftchen versteckt hatte, das ihm ein Junge aus der Parallelklasse, zerlesen und verklebt, heimlich gegen eine wertvolle Briefmarke eingetauscht hatte. Er schüttet seinen Aktenkoffer achtlos aus und stopft seinen gesamten Vorrat an Patronen hinein. Mit dem Koffer und der Pumpgun sieht er so ähnlich aus, wie der Mann im schwarzen Mantel.

Sie erwarten ihn vor der Türe, nehmen ihn in ihre Mitte und verlassen das Grundstück zu Fuß. Es sind die Feldwege, die er seit seiner Kindheit kennt, doch sie führen nicht mehr zur Hauptstraße, sondern an einen Ort, der all seinen Gästen für immer verborgen bleiben wird. Seine neuen Gefährten nehmen Heumann mit auf den Highway. Ihn mit seinem gesegneten Medaillon, seiner schwarzen Krawatte zum bunten Sommerhemd und der Pumpgun, die Löcher in Menschenkörper machen kann, groß wie Haifischbisse.

Es wird noch mehr als eine Stunde dauern, bis den ersten Gästen Heumanns Fehlen auffällt. Noch zwei Stunden, bis man wirklich nach ihm sucht. Drei Stunden, bis man kopfschüttelnd beschließt, das restliche Grillfleisch (von dem ohnehin erstaunlich wenig übrig ist) trotzdem nicht verkommen zu lassen, ehe man nach Hause fährt. Zwei Tage, ehe sich die Eltern und die Verwandten dazu entschließen, sein Verschwinden bei der Polizei zu melden. Eine Woche, ehe bei den Nachforschungen ans Licht kommt, dass Heumann vor ein paar Monaten über einen Arbeitskollegen schwarz an eine Schusswaffe gekommen ist, die man jedoch nirgendwo bei ihm findet. Drei Monate, ehe die Eltern die Theorie vom Selbstmord ihres Sohnes schlucken und beschließen, einen leeren Sarg zu beerdigen. Zu seiner Beerdigung kommen nicht einmal halb so viele Menschen wie zu seinem Geburtstag. Auf die Doors müssen sie auch an diesem Tag verzichten.

Irgendwo in einer anderen Welt geht über einem zerstörten Highway die Sonne auf…

Einfach zu viel Stephen King gelesen in letzter Zeit.